Dieser Tag wird zu den denkwürdigen Tagen in meinem Leben gehören – wenn alles rund läuft. Denn in Nunavut herrschen andere Gesetze. Alles wird davon abhängen, ob das Wetter und die Eisbären mitspielen. Und die Inuit-Guides sowieso, es ist nämlich auch noch Narwal-Jagdsaison. Deshalb können sich hier in Repulse Bay die Prioritäten kurzfristig verlagern, und deshalb hängt Coral, unsere Reisebegleitung, seit dem Frühstück schon wieder am Telefon ..
Inhaltsverzeichnis
- 1 Zu Besuch in der Repulse Bay in Kanadas Norden
- 2 In Nunavut reisen: Am Ende klappt immer alles
- 3 In Nunavut reisen: Inuit-Guides mit Adleraugen
- 4 In Nunavut reisen: Aug´ in Aug´ mit Eisbärenmutter
- 5 In Nunavut reisen: Johnny erzählt vom Walfang
- 6 Reisebericht Arktis: Neuer Blick auf alte Stereotype
- 7 Weitere Informationen über Eisbären und Belugas in Kanadas Norden
Zu Besuch in der Repulse Bay in Kanadas Norden
Schlechtes Wetter und kabbelige See würde ich als Hinderungsgrund ja noch akzeptieren. Doch die Aussicht, heute nicht auslaufen zu können, nur weil kein Inuit-Guide aufzutreiben ist, fällt mir schwer zu verstehen. Soll die lange Anreise etwa umsonst gewesen sein? Zwischen zwei Anrufen frage ich die unermüdliche Coral.
Coral erklärt die Lage mit der begrenzten Zahl an Booten in Repulse, mit Motorschäden, Auftank- und sonstigen Versorgungsproblemen und den allen möglichen Verpflichtungen unterworfenen Einheimischen. Echter Arktis-Alltag in einer kleinen Wo-sich-alle-kennen-Gemeinde eben.
Doch ich soll mir keinen Kopf deswegen machen, sagt sie heiter, am Ende klappe immer alles. Oder, wie man überall dort in Kanada zu sagen pflegt, wo die Infrastruktur schwach und die Menschen dafür umso freundlicher sind: Not to worry, everything will fall into place!
Selbstverständlich gibt es einen Plan B. Bis zu einer klaren Eisbären-Ansage schickt uns Coral in den hiesigen Northern Store. Diesen von der über 300 Jahren alten Northwest Company betriebenen Laden gibt es überall in Kanadas Norden. Wer in Nunavut unterwegs ist, landet hier eher früher als später. Auf über 700 schmucklosen Quadratmetern ist hier von Lebensmitteln über Haushaltswaren bis zu Bekleidung und Werkzeug alles zu haben, was im arktischen Alltag so alles nötig ist. Meist dienen die Northern Stores auch als Wechselschalter, Tankstelle und Postamt.
Und natürlich als Treffpunkt und Info-Börse für die Einheimischen. Wir streifen durch die Regalreihen und staunen über die astronomischen Preise. Mit einem Preisschild weit über 10 000 Dollar schießt ein Artikel den Vogel ab: ein über 2 m langer Narwal-“Stoßzahn”! Zusammen mit einem knappen Dutzend weiterer solcher Zähne dieser kleinen Walart wartet er im Büro des General Manager auf seinen Käufer. “Sammler sind da ganz heiss drauf”, sagt der GM und lädt mich zu einer näheren Inspektion ein.
Richtig schwer sind diese speerförmigen Objekte, über deren Funktion die Wissenschaftler noch immer streiten. Ich wiege den teuersten in der Hand und kriege schnell einen langen Arm. Jede Gemeinde in Nunavut darf die bis zu fünf Meter langen Säuger (ohne Stoßzahn) jagen, muss dabei allerdings strenge Quoten respektieren. “Der geht billiger weg”, meint der GM, als ich einen kleineren Stoßzahn aus der Ecke fische, “die Spitze ist abgebrochen.”
Ich studiere die perfekt schraubenförmige, sich gleichmäßig zum Ende hin verjüngende Form auch dieses Zahns und merke einmal mehr, dass ich absolut kein Fan von Trophäensammlern bin.
Später am Vormittag dann die gute Neuigkeit: Die Boote sind da, die Inuit-Guides auch! In zwei PS-starken Aluminium-Booten geht es aus dem Roes Welcome Sound hinaus an den Nordrand der Hudson Bay. Zum ersten Mal seit langem sehe ich wieder Eisberge im August. Kleine zwar, aber immerhin.
Ich trage mehrere Schichten, friere im Fahrtwind aber trotzdem bald ganz erbärmlich und gehe hinter dem Bug in Deckung. Johnny und sein Vater David, Jäger und Guides in Personalunion und zwei liebenswerte Zeitgenossen, werden uns während der nächsten Stunden durch die vorgelagerte Schärenwelt schippern. Der Himmel ist grau, die Wettervorhersage für die nächsten Tage so lalá.
Umso stärker wird das Gefühl der Dringlichkeit: Hoffentlich sehe ich ich heute Eisbären, denn wann werde ich je wieder hierher kommen? David, der nur Inuktitut spricht, scannt aufmerksam die dünne, aus baumlosen Felseninseln bestehende Linien zwischen Meer und Himmel. Was für mich leer und, zumindest jetzt bei bedecktem Himmel, ziemlich trist aussieht, scheint für den alten Inuit ein offenes Buch zu sein.
Immer wieder greift er zum Fernglas und murmelt etwas in seinen weißen Bart. Ruhelos schweift sein Blick hin und her, fast scheint es, als habe er Witterung aufgenommen und versuche nun, den nächsten Zug des Eisbären zu erahnen.
Irgendwann kriegen wir, wofür wir hergekommen sind. Zwischen zwei Inseln macht David im Wasser eine Eisbärenmutter mit zwei Junge aus. Ich hätte sie niemals gesehen. Gemeinsam mit Johnny im anderen Boot nehmen wir die Verfolgung auf. Dabei gehen unsere Skipper so energisch zu Werke, dass ich mich frage, ob bei ihnen der Jagdinstinkt durchbricht. Zweifellos meinen sie es gut, doch zumindest anfangs rücken sie den Tieren so dicht auf die Pelle, dass diese zwischen unsere Boote geraten und unverkennbar Zeichen von Stress zeigen (Die Kollegen übrigens auch, wie im Video zu hören ist .. :)). Erst als die kleine Bärenfamilie (einen vorhersagbaren) Kurs auf die nächstgelegene Insel nimmt, folgen wir in gehörigem Abstand. Die Ah´s und Oh´s im Video sagen eigentlich alles. Es ist ein fantastisches, unerwartet beglückendes Gefühl, diese wunderschönen Tiere in freier Wildbahn sehen zu dürfen. Auch ihr anschließender Landgang wird von Wow´s aus tiefstem Herzen begleitet. Wie groß selbst die Kleinen sind! Wie mühelos sie den steinigen Hang erklimmen, wie vorsichtig die Bärin sich zum Schluß umdreht, um nicht auf ihre Junge zu treten ..
Auf dem Rückweg ist die Stimmung ähnlich aufgekratzt wie nach einer erfolgreichen Walbeobachtung. Oder einer Jagd. Die großen Bären in freier Wildbahn zu erleben, ihre physische Präsenz, die Ur-Instinkte in einem weckt und alle Energie aus Raum und Zeit zu saugen scheint, all´ das hat niemanden kalt gelassen. Auch die Inuit sind guter Dinge. Kurz vor Repulse Bay drehen sie bei und landen mit uns auf einer kleinen Insel.
Was ich von weitem für eine Art Skulptur hielt, entpuppt sich nun als die mächtigen Kieferknochen zweier Grönlandwale. Johnny und David waren mit dabei, als die beiden Tiere erlegt, an Land gezogen und zerteilt wurden. Während wir die jeweils mehrere Meter langen Knochen inspizieren, erzählt Johnny, dabei von seinem Vater David lebhaft auf Inuktitut unterstützt, von der Jagd auf den größeren der beiden Wale im Jahr 2012.
Dass sie 40 Jäger in vier Booten gewesen seien und den erlegten Wal mit einem Bulldozer auf den Strand gezogen hätten. Wie sie ihn zuvor harpunierten und wie er, Johnny, auf den treibenden Wal gesprungen und ihm seine Harpune dicht hinter dem Atemloch in den Leib gestoßen habe. Und wie das ganze Dorf zwei Tage lang mithalf, um den Wal zu zerlegen und abzutransportieren.
Johnny lächelt selig, während er sich an diese Tage erinnert.
Reisebericht Arktis: Neuer Blick auf alte Stereotype
Fazit: Der standesgemäße Abschluss eines unvergesslichen Tages. Ich habe Eisbären aus nächster Nähe erlebt, Walfang-Geschichten aus erster Hand gehört und gelernt, organisatorische Dinge entspannter anzugehen.
Und während ich Johnny und David zuhörte und sah, wie sie bei ihren Erzählungen aufblühten, erkannte ich, dass der inzwischen weltweit geächtete Walfang hier in Nunavut noch immer viel, viel mehr ist als nur das.
Hier am Polarkreis schafft er gemeinsame Erinnerungen, stärkt das Wir-Bewusstsein und Zusammengehörigkeitsgefühl und ist der Stoff für neue Lieder. Von den japanischen und isländischen Walfängern kann man das nicht behaupten.
Weitere Informationen über Eisbären und Belugas in Kanadas Norden
- Website von Nunavut Tourism (deutsch)
- Offizielle Website von Travel Manitoba (deutsch)
- Calm Air: www.calmair.com (englisch)
- The Great Canadian Travel Company: www.greatcanadiantravel.com (englisch)
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