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Nach den Trucker-Protesten in Ottawa: So ticken die Kanadier

“Cleanup crews replace protesters in downtown Ottawa as heavy police presence remains“ (CBC News): Während ich dies schreibe, beseitigen Aufräumtrupps die Spuren der aufgebrachten Trucker.

@William Patino / Destination Canada

Kanadische Trucker hatten das Regierungsviertel in Ottawa drei Wochen lang besetzt, um gegen die Impfvorschriften für Lastwagenfahrer, gegen die Corona-Politik der Bundesregierung im allgemeinen und für „Freiheit“ im Allgemeinen zu demonstrieren. Als Premierminister Justin Trudeau den nationalen Notstand verhängte – zum ersten Mal in der kanadischen Geschichte, gerade eben wurde er verlängert (https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/kanada-ausnahmezustand-101.html) – um mehr rechtliche Möglichkeiten für ein Vorgehen gegen die Demonstranten zu haben, ging ein irritiertes Raunen durch die Presse: Was ist bloß los in Kanada? Dem Land, das doch eigentlich als das bessere Amerika gilt? Driftet das Land des Ahornsirup etwa nach rechts ab? Ist dies der Beginn einer neuen politischen Bewegung, sind die Trucker so etwas wie die kanadischen Querdenker? Und wie groß war und ist der Einfluss der Sympathisanten aus den USA?

Berechtigte Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Immerhin verliefen die Proteste in Ottawa glimpflich. Keine Wasserwerfer, kein Tränengas, keine Übergriffe. Zudem verloren die Trucker während der drei Wochen, was in der Öffentlichkeit an Sympathie noch übrig war. Unter anderem, weil an Kriegerdenkmälern uriniert und Kinder zu Konfrontationen mit der Polizei mitgenommen wurden. Wie wären die Trucker-Proteste verlaufen, hätten sie in Washington stattgefunden? Und kommt jetzt ein Rechtsruck? Ich lebe seit 30 Jahren in Kanada und glaube nicht, dass es dazu kommen wird. Warum, hilft eine andere Frage besser zu erklären: Was ist in Kanada anders gelaufen als in den USA? Warum tickt Kanada anders?

@WildExodus Travel / Destination Canada

Kanada vs. USA: Kanadier ticken anders

Mir fiel ein, was ich vor einer Ewigkeit für die Edition Erde geschrieben habe. „Die kanadische Geschichte besteht weniger aus blutigen Auseinandersetzungen als aus Kompromissen. Die Besiedlung des Westens beispielsweise, in den USA der Stoff, aus dem die Helden sind, war in Kanada die Sache von Bürokraten und Kolonisierungsgesellschaften. Von Anfang herrschte Ordnung. Revolverhelden und legendäre Schießereien wie am O.K. Corrall in Tombstone (Arizona) sind in Kanada Mangelware. In seinem Buch Why we act as Canadians erzählt der kanadische Schriftsteller und Journalist Pierre Berton die unglaubliche, aber wahre Geschichte von einem Revolverhelden aus Dodge City, der während des Klondike-Goldrausches im Yukon aus einem Saloon geworfen wurde, weil er zu laut gesprochen hatte! Berton erinnert sich auch an die Erzählung seines Vaters, wonach man auf der kanadischen Seite der Grenze seine Nuggets eine Woche lang unbeaufsichtigt liegen lassen konnte, während man sich in Alaska darüber die Köpfe einschlug. Zu verdanken sei dieses Wunder den Mounties gewesen, den legendären Polizisten der Royal Canadian Mounted Police (RCMP), deren Aufforderung, die Waffen niederzulegen, selbst der von 4000 Kriegern umgebene Sitting Bull nachkam.

Es gibt viele solcher Beispiele, doch eines wird schon früh deutlich: Den Kanadiern geht es vor allem um Ruhe und Ordnung. Das Wort „Freiheit“, die in den USA verklärte „Liberty“, wird in Kanada mit dem passiver klingenden „Freedom“ übersetzt. Wenn in Kanada ein Soldat seinen Urlaub beantragt, bittet er um „Leave“. Ein GI dagegen erhält „Liberty“, ein Wort, das in diesem Kontext Flucht impliziert. Die Kanadier sind kein Volk von Hitzköpfen, sondern von ehemaligen Kolonisten, die ihre Unabhängigkeit stückchenweise und mit einem Minimum an Blutvergießen erreicht haben. Viele Kanadier halten ihre Geschichte deshalb für langweilig und räumen ihr nicht den Stellenwert ein, der ihr gebührt. Darum gibt es auch nicht so etwas wie den „Canadian Dream“, eine Vision, die alle vereint und die Existenz von Nation und Regierung über jeden Zweifel erhaben erscheinen lässt. Sich über die vermeintlich unfähige Regierung in Ottawa zu beklagen, ist ein Volkssport, und ähnlich ließe sich auch, wo es schon mal um die wackelige nationale Identität geht, auch die Unzufriedenheit mit Staatssymbolen als typisch kanadischer Charakterzug darstellen.

@Maxime Coquard

Kanada entstand aus Kompromissen

1867 entstand Kanada beileibe nicht aus überschwänglicher Begeisterung. Die einzelnen Kolonien mußten in die Konföderation gebeten und gebettelt werden. Einige, wie Prince Edward Island, ließen sich ihren Beitritt teuer bezahlen. Newfoundland & Labrador trat erst 1949 bei. Am Ende waren es die schlechten Erfahrungen mit dem aggressiven Nachbarn im Süden und das daraus resultierende Sicherheitsbedürfnis, die den Ausschlag zum Beitritt gaben. Doch selbst danach brauchte das neue Staatsgebilde die Eisenbahn als Korsett, um nicht gleich nach der Gründung wieder auseinanderzufallen.

Über 150 Jahre später ist Kanada noch immer nicht das Ergebnis, sondern das Ziel. Die 38 Millionen Kanadier werden nicht durch eine gemeinsame Geschichte, sondern durch 150 Jahre zum Teil schmerzhafte verfassungsrechtliche und andere politische Kompromisse zusammengehalten.

Kanada – eine Nation im Werden? Oder vor dem Ende? Immerhin ist das Land derzeit weltweit das einzige, dass sich voller Stolz ein Einwanderungsland nennt. Und immerhin spricht Premier Justin Trudeau immer mal wieder von seiner Vision eines postnationalen Staates, in dem es keine Leitkultur gibt. Margaret Atwood, die berühmteste literarische Stimme des Landes, sagte einmal, dass das Überleben die bemerkenswerteste Leistung der Kanadier sei. Sei es wie es sei, bislang hat Kanada noch jeden Sturm auf seine Verfassung überstanden. Meinungsverschiedenheiten werden nach wie vor in besten kanadischer Tradition diskutiert, vertagt oder ausgesessen, und zu bewaffneten Auseinandersetzungen im großen Stil ist es, obschon genug sozialer und politischer Sprengstoff vorhanden ist, noch nie gekommen ..“

 

 

 

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