Kanadas Osten

Himmlisches Hiking: Auf dem East Coast Trail durch das neue Neufundland

Die Sonne steht schon ziemlich tief. Wo bleibt Harold Pennell? Wenn der Besitzer des Northwest B&B nicht bald auftaucht, werden Danielle und ich auch den Rückweg vom Cape Race Lighthouse nach Trepassey zu Fuß machen müssen.

DSC_0187 9

East Coast Trail: Immer die Küste entlang!


Dabei wäre das, auch wenn wir diese 20 Kilometer schon einmal in den Knochen haben, nicht allzu tragisch. Es ist einfach zu schön hier. Im letzten Tageslicht würden wir durch ein weich gezeichnetes Stillleben aus tiefblauem Nordatlantik, schneeweißer Brandung und baumlosem Grasland wandern. Ganz bequem auf einer autolosen Schotterstraße. Nun kenne ich Harold aber nicht persönlich, und am Telefon hat sein Mrs.-Doubtfire-Akzent mein Englisch derart strapaziert, dass ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich ihn richtig verstanden habe. Wir können daher nur freundlich lächeln, als Harold endlich in seinem Uralt-Truck heranrumpelt und uns mit einem jovialen “How a´ya meekin´ uut tedee?” begrüßt. Ich werfe unsere Rucksäcke auf die Ladefläche und klettere auf den Beifahrersitz. Während wir mit Tempo 25 nach Trepassey zuckeln (“Neue Reifen sind teuer”), erzählt der stattliche Mitt-Sechziger Geschichten vom Leben hier draußen.

Harold-P.

Harold Pennell: Ein wunderbarer Gastgeber und Storyteller. Thanks, Harold!

Was wir verstehen, ist dies: dass er ein Seniorenheim in Trepassey hatte und es verkaufen musste, der Arztrechungen wegen. Dass er danach Wärter im Cape Race Lighthouse wurde, er hatte damals keine andere Wahl, und wie er die Einsamkeit hier draußen immer noch hasst. Und wie, als 1992 das Fangverbot für Kabeljau 35 000 Neufundländer arbeitslos machte, auch Trepassey 600 Jobs verlor und die Fischfabrik nach Tansania verkauft wurde. Seine acht Brüder, alles Fischer, leben seitdem von der Wohlfahrt, sie waren für die Umschulung zu alt, nur seine drei Söhne haben Jobs, allerdings auf dem Festland. Und dass er und Frau Marie 1993 das B&B eröffnet haben, aber dass es zu wenig verdiene, um den Job im Leuchtturm endgültig an den Nagel zu hängen. Ob Trepassey sterbe, frage ich. Vor der Haube taucht Portugal Cove South auf, grüne, weiße und rote Häuschen vor der dramatischen Leere der Barrens. Dahinter liegt Trepassey. Früher hatte es 3000 Einwohner, heute ganze 600. Harold klappt die Sonnenblende herunter. “Nur wenn wir es sterben lassen”, sagt er und biegt auf den Highway 10 ab. Ganze 27 Jobs gebe es derzeit in Trepassey. “Umso wichtiger ist es, dass der East Coast Trail endlich kommt. Der wird den Tourismus hier ankurbeln.” Daran glaubt Harold fest.

ECT-Trail

Wanderer-Nirwana East Coast Trail: Kein Tag, keine Stunde ohne Aussicht

Ende einer Monokultur, Ende einer 400 Jahre alten Lebensweise: 1992 war Neufundlands Stunde Null. 10, 15 Jahre später: Neubeginn, ohne “King Cod”. Die allermeisten Fischer sind auf Schalentiere umgestiegen. Tausende gingen in die Eisenerzminen in Labrador, Zehntausende auf die Ölfelder von Ft. McMurray in Alberta. Auch der East Coast Trail ist ein Ergebnis dieser Neuorientierung. Schon 1994 begannen einheimische Wandervögel auf der Avalon-Halbinsel damit, die alten Pfade der Fischer und Beerensammler freizulegen, ihr Vorbild: der West Coast Trail auf Vancouver Island. Der wurde längst ein Opfer seiner Prominenz: Wer ihn gehen will, muss seinen Platz weit im Voraus reservieren. Der East Coast Trail hingegen, 220 km lang und derzeit von der Hauptstadt St. John´s nach Cappahayden im Süden reichend, ist grandios leer – und dank seiner wilden Schönheit und fotogenen Fischerdörfer noch spektakulärer und abwechslungsreicher als sein weltberühmtes Gegenstück. Und er wächst. Demnächst, hat die East Coast Trail Association (ECTA) bestätigt, werden weitere Abschnitte angegliedert. Inzwischen gibt es auch genug B&B´s, für die man am Ende des Tages den Trail bequem verlassen kann, sowie ein Reservierungsprogramm mit Shuttleservice. Für alle, die zwar gerne wandern, aber am Ende des Tages lieber in einem Bett als auf einer Isomatte schlafen.

ECT-Gesamtansicht

East Coast Trail: Nichts für Kilometerfresser. Um die tief ins Land reichenden Buchten muss man nämlich auch herum.

So wie wir. Am nächsten Morgen bringt Harold uns zum Trailhead in Port Kirwan. Das Fischernest besteht aus zwei Dutzend properer Häuschen in der Fermeuse Bay, mit Bobby Cars in den Vorgärten und frisch gestrichenen Krabbenfängern an der Pier. Gleich neben der Immaculate Conception Church steht das dreieckige Schild mit Richtungspfeil und ECT-Logo. Harold wünscht ““heeppy treels”, und bald sind wir im Wald. 160 km sind es noch bis nach St. John´s, zehn Tage habe ich veranschlagt. Die ECTA-Karte nennt die 17 km nach dem Tagesziel Aquaforte “difficult”, doch zunächst wandern wir vorbei an friedlich mampfenden Kühen auf grünen Matten. Dann aber verabschiedet sich die ländliche Romantik fluchtartig.

East Coast Trail: Zu Fuß durch das wahre Newfoundland

Hinter einer Kurve taucht das wahre Neufundland auf: Schroffe Steilküste, soweit das Auge reicht, grau, abweisend, zerrissen von Buchten, den “coves”, und tiefen Buchten, die den Trail zu langen Umwegen zwingen. Nichts für Kilometerfresser. Der schwer gegen diese Küste krachende Atlantik liefert das Donnergrollen dazu. Bald geht es nur noch auf und ab. Den Ozean zur Rechten, arbeitet sich der ECT über steile, windige, bis zu 300 m hohe Vorgebirge, auf denen wir durch kniehohes Blau- und Moltebeergestrüpp staksen, dann hinab in feuchte Senken am Ende der Buchten, wo sich kein Lüftchen regt und wir beim Studieren von Elchspuren bis zu den Knien im Morast versinken. Auf der anderen Seite dann wieder hinauf, auf das nächste Kap, den nächsten Hang, das nächste Plateau.  So wird es die nächsten zehn Tage gehen. Von einer Aussicht zur anderen.

Berry-Head

Bald Head: Ein schmaler Pfad führt ´rüber – nichts für schwache Nerven

Auf Bald Head, einem runden, von der Erosion glattgeschmirgelten Buckel, die erste Pause. Ernüchternd, dieser Fernblick. Unser übernächstes Ziel, der Leuchtturm von Ferryland, hockt fingernagelgroß auf dem Horizont. So nah und doch, der tiefen Buchten wegen, so fern. Besänftigend: ein Buckelwal, der prustend unter uns auftaucht und seinen schwarz glänzenden Rücken vorführt. Nach zwei weiteren Stunden durch Laub-, Nadel- und Krummholzwald taucht Berry Head auf, ein kolossaler, gegen die Steilküste lehnender Felsenbogen. Ihn zu begehen, wagen wir nicht, auch wenn ein schmaler Pfad hinüber erkennbar ist. Nachmittags um drei biegt der Trail in die Bucht von Aquaforte ein. Noch acht Kilometer. Wir erkennen ein paar Häuser, aber in den nächsten Stunden kommen sie einfach nicht näher. Tiefe Falten in den Felsen zwingen den Trail zu einem Zickzackkurs über knotige Wurzeln, glitschige Felsen, steile, farnüberwachsene Hänge.

East Coast Trail: Am Ziel. Gerade rechtzeitig vorm Stimmungsumschwung

Die Kamera verschwindet im Rucksack, das Gebaumel am Hals stört jetzt die Konzentration. Eine Ewigkeit später stehen wir auf einer Wiese mit hüfthohem Gras und morastigem Untergrund. Von der anderen Seite der Bay dringen Stimmen herüber. Wir träumen von der heißen Dusche, doch dann passiert es: Der Trail löst sich in Luft auf. Plötzlich stehen wir im Dickicht, umzingelt von toten Tannen, die unsere Arme zerkratzen und meine Mütze vom Kopf reißen. Ich gehe zurück, suche, rekonstruiere, wate zum zweiten Mal an diesem Tag durch knietiefen Modder. Nichts. Als wir zerrissen und verdreckt in Rita Hagen´s Hospitality Home in Aquaforte anklopfen, haben wir drei Stunden Rutscherei über feuchten Waldboden hinter uns. “You must be the hikers”, schließt Rita messerscharf. Die 68-jährige Witwe weiß was wir brauchen und lotst uns erst zur Waschmaschine und dann ins Badezimmer. Später stellt sie Bohnensuppe und Maisbrot auf den Tisch. “Eat me laads!” In dieser Nacht hätte es auch eine Isomatte getan.

Lighthouse-Picnics

Lighthouse Picnics: Die Zwei vom Ferryland-Leuchtturm

Das harte Leben, hat Harold gesagt, habe die Menschen hier geprägt. Man sei es gewohnt, sich selbst und einander zu helfen, nur so habe man hier überlebt. In Ferryland, das wir tags darauf um die Mittagszeit erreichen (Karte: “easy to moderate”), haben zwei junge Frauen eine neufundländische Tradition in eine erfolgreiche Geschäftsidee umgesetzt. “Im Sommer pflegen wir Neufundländer mit der Familie zum Beerenpflücken und Picknicken zu gehen”, sagt Jill Curran und wischt die Hände an der Schürze ab. In ihrem kleinen Bistro herrscht Hochbetrieb. “Wir haben uns gesagt, warum bieten wir kein Gourmet-Picknick draußen am alten Leuchtturm an?” Der stand damals leer – fotogen auf einer hohen Felsenklippe am Ende einer weit ins Meer reichenden Landzunge. Gemeinsam mit ihrer Freundin Sonia O`Keefe stellte Jill hier einen Tisch auf und begann, Picknickkörbe mit kulinarischen Leckereien an Touristen zu verkaufen. Die Idee kam an. Jill und Sonia renovierten daraufhin den Leuchtturm, richteten im Wärterhäuschen Küche und Bistro ein und beschäftigen heute 12 Angestellte. An guten Tagen füttern sie bis zu 200 Menschen. Wir bestellen Curry Chicken Sandwich mit Obstsalat und Schokosahnetorte und erhalten eine Picknick-Decke und ein Fähnchen. Nette Idee. “Such´ Dir ein hübsches Fleckchen und schwing die Fahne”, sagt die Dame an der Kasse, es ist Jills Tante, “eines unserer Mädel wird Dich finden.” Zehn Minuten später speisen wir wie die Könige und genießen den Meeresblick.

Roter-Rucksack

East Coast Trail: Kann der viel berühmtere West Coast Trail da etwa mithalten?

Im Laufe der nächsten Tage hören wir noch mehr Geschichten aus dem neuen Neufundland. In Cape Broyle, das wir nach einem anstrengenden 20-Kilometer-Marsch (Karte: “difficult to strenuous) erreichen, erklärt uns Betty Hawkins den Grund für die vielen neuen Häuser im Ort. “Unsere jungen Männer verdienen als ungelernte Arbeiter in Fort McMurray bis zu 100 000 Dollar pro Saison und als Facharbeiter doppelt so viel.” Die Besitzerin des Best Friends B&B hat selbst einen Schwiegersohn, der auf einer Ölbohrinsel arbeitet. “Sechs Wochen Arbeit, Zehnstundentage, eine Drecksmaloche, aber gutes Salär, plus zwei Wochen bezahlter Heimaturlaub.” Nach Vertragsende kehrten sie jedoch alle nach Neufundland zurück und bauten sich hier ihre Häuschen. Mit den eigenen Händen und auf dem Land ihrer Familien. “Deshalb sind bei uns alle Häuser hypothekenfrei.”

Vom Habenichts zum Wohlstandsbürger: Mit Newfoundland geht es aufwärts

In Brigus South (Admiral´s Cove – Brigus South: “easy”), einem winzigen Fischerhafen hinter natürlichen Wellenbrechern, erkundige ich mich nach der amerikanischen Fahne über einem der Häuser. “Ist ´ne Familie aus New Jersey”, sagt der Mann an der Pier. “Sie kam das erste Mal nach Neufundland, als ihr Flugzeug am 11. September 2001 nach Gander umgeleitet wurde und alle Passagiere für mehrere Tage festsaßen.” Insgesamt, lesen wir später, waren es mehrere tausend Amerikaner, die in den Tagen nach den Terrorangriffen dieses verhängnisvollen Tages auf diese Weise Neufundland kennen- und liebenlernten. Inzwischen gilt Neufundland als heißer Immobilienmarkt. Der Klimawandel hilft. Die Zahl der Sonnentage hat sich während der letzten 15 Jahre verdoppelt.

rot-und-gruen

East Coast Trail: Elche, Wale und hin und wieder mal ein Leuchtturm. Was will man mehr?

Droht dem East Coast Trail deshalb ein ähnliches Schicksal wie dem West Coast Trail? Bei strahlendem Wetter wandern wir durch kleine Häfen wie Bauline East, Tors Cove und Petty Harbour, wo die Fischer noch immer frühmorgens ausfahren, und, hoch über dem weissbemützten Atlantik,  vorbei an Felsenzinnen mit Papageientaucher-Kolonien und so vielen spektakulären “viewpoints”, dass wir irgendwann an dem leiden, was die Raftingguides im Yukon augenzwinkernd “scenic overdose syndrom” nennen. Das Schönste: Obwohl Hochsaison ist, begegnen wir nur einer Handvoll anderer Hiker. Auf den 20 Kilometern zwischen Bay Bulls und The Goulds (Karte: “difficult to strenuous”) überqueren wir Bäche, balancieren auf nassen Steinen, umrunden schwarze Felsentore, in denen 50 Meter tiefer der Atlantik gurgelt – und stehe plötzlich auf einem winzigen Felsbalkon hoch über dem Ozean. Vor uns bewacht eine schlanke, alleinstehende Felsenzinne die Steilküste. Rechts von uns ragt ein luftiger Vorsprung über die Kante. Nichts wächst auf seiner Granitplatte – außer einer einzigen Fichte, die sich trotzig dort festkrallt. Das Bewusstsein, diesen Blick ohne von Parkplätzen herüberdringendes Türengeknall genießen zu dürfen, erfüllt uns mit Dankbarkeit. Ob sie jemals hier Absperrseile anbringen werden? Am letzten Tag in St. John´s klettern wir  auf den Signal Hill, Neufundlands populärsten Aussichtspunkt. Dazu wählen wir den North Head Trail. Auf halbem Weg erreicht dieser ein Nadelöhr: links die Felswand, rechts der Abgrund. Kein Absperrseil. Für Wanderer wurde lediglich eine Kette am Fels angebracht. Zum Festhalten ..

Her-and-me

East Coast Trail: Am liebsten wären wir immer weiter marschiert .. :)

 

Mehr Infos über den East Coast Trail findet Ihr hier:

[darkgrey_box]

[/darkgrey_box]

You Might Also Like

2 Comments

  • Reply
    Matthias
    20. Januar 2020 at 11:57

    hallo,

    wir denken derzeit über urlaub auf dem east coast trail nach, Ist der den für nicht schwindelfreie Wanderer wie uns geeignet, Links Felsen mit kette und rechts Abgrund ohne Geländer wäre schon kritisch, aber das Stück kann man ja vlt. umgehen, gibt es mehrere solche Abschnitte?
    vG
    Matthias

    • Reply
      Ole Helmhausen
      9. September 2020 at 15:34

      Hallo Matthias, leider sehe ich deine acht Monate alte Nachricht erst jetzt .. Inzwischen hat sich die Lage ja dramatisch verändert, aber früher oder später werden Urlaubsreisen in Kanada – womöglich nter veränderten Bedingungen – wieder möglich sein. Zum East Coast Trail kann ich euch nur zuraten. Er ist einfach toll – vor allem für Menschen, die nicht gerade Hardcore Camper sind und keine Lust haben, die ganze Campingausrüstung plus Proviant mitzuschleppen. Was deine Bedenken angeht, gilt dies: Die East Coast Trail Association kümmert sich vorbildlich um die Trails. Schwierige Stellen werden ständig ausgebessert, die Beschilderung wird immer besser. Ich bin selbst von Natur aus kein Draufgänger, sondern eher der vorsichtige Typ und auch nicht ganz schwindelfrei. Trotzdem hatte ich nie das Gefühl, in Gefahr zu sein – dazu sind die Trails, selbst wenn sie an dem Kanten entlang führen, immer noch breit genug, dass wenigstens zwei Personen nebeneinander wandern können. Ist deine Frage damit beantwortet? Viele Grüße und happy trails, Ole

Leave a Reply