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Wells Gray (BC): Zu Fuß durch die kanadische Wildnis

Tagelang über Berge und durch Täler und keine Menschenseele außer einem Selbst: Im Wells Gray Provincial Park in British Columbia können auch unerfahrene Hiker echte Wildnis erleben. Ein Zelt ist nicht nötig, übernachtet wird in zünftigen Hütten. Hut-to-Hut-Hiking heisst das hier und ist, anders als in Europa, noch ein Novum.

Blick-auf-Swimmers-Lake

Hiking im Wells Gray Provincial Park: Hüttenwandern ist in Kanada noch neu.

So dicht an dicht habe ich Blumen bisher nur auf der Entbindungsstation gesehen. Es ist, als wanderten wir über die Farbpalette des großen Claude Monet. Gelbe Arnika, violette Gänseblümchen, blaue Lupinen. Und Castilleja, die hier viel treffender “Indian Paintbrush” heisst, in allen Rottönen und mit knallgelben Zungen: Guide Jean-Michel Lessard sagt zwar, der Höhepunkt dieser Farbenorgie sei bereits zwei Wochen her, doch gerade jetzt würde ich diese Wanderung am liebsten vergessen und den Rest des Tages dösend zwischen Orobanchaceae und Onograceae verbringen. Dabei sind wir noch keine zwei Stunden unterwegs ..

Wildbumenwiese1

Tolle Farben: Der Wells Gray Provincial Park ist berühmt für seine Wildblumenwiesen.

Zu Fuß durch die kanadische Wildnis – wer träumt nicht davon? Doch geht es an die Umsetzung, stellen sich die Zweifel ein. Hausen denn nicht gefährliche Grizzlybären im düsteren Wald? Berglöwen? Wölfe, Koyoten? Und hört man nicht immer wieder Geschichten von verirrten Wanderern, die ein schreckliches Ende nahmen? Und überhaupt: Hat man überhaupt die Kondition, Zelt, Schlafsack und Proviant zu schultern und durchs Unbekannte zu stapfen?

Trophy-Hut

Wells Gray Provincial Park: Die Trophy-Hütte liegt eine gute Tageswanderung von der nächsten Straße entfernt.

An solche wie uns dachten Tay Briggs und Ian Eakin, als sie sich nach 13 Jahren Trekking im Himalaya 1988 in Cleawater in British Columbia niederließen und den Ausrüster Wells Gray Adventures gründeten. Dann bauten sie in den Trophy Mountains im Süden des Wells Gray Provincial Park drei rustikale Hütten für Ski-Wanderer. In Kanada ist das an und für sich nichts Besonderes. Im Laufe der Zeit gingen Tay und Ian jedoch dazu über, die Hütten auch im Sommer zu nutzen, im Rahmen geführter Wandertouren. In Europa ist Hüttenwandern zwar ein alter Hut, doch in Nordamerika steckt das sogenannte Hut-to-Hut-Hiking noch in den Kinderschuhen. Und dass in der Wildnis ein Guide mit dabei ist, darüber ist man spätestens dann nicht mehr ehrenrührig, wenn man über den ersten Bären-Kot steigt.

Wells-Gray,-Fernblick

Wells Gray Provincial Park: Schöne Aussichten.

Der über 5000 qkm große Wells Gray Provincial Park schützt die alpine Wildnis der südlichen Cariboo Mountains. 95, wenn nicht sogar 99 Prozent der Parkbesucher bleiben auf der einzigen Straße des Parks, um die spektakulären Helmcken Falls zu sehen. Wenigstens 200 Hiker pro Jhr schaffen es zumindest ein Stück weit ins schwer zugängliche Innere des Parks. So viele Kunden zählen Ian und Tay jeden Sommer, und wenn der Umstand, dass die beiden das Privileg hatten, die meisten Pässe, Täler und Bäche der Trophy Mountains selbst zu benennen, ein Indiz für die Unberührtheit dieser Gegend ist, versprechen die fünf Tage mit Guide Jean-Michel Lessard unvergesslich zu werden. Schon die Fahrt im zerbeulten Van vom WGA-Stützpunkt in Clearwater auf unbefestigter Piste hinauf zum Trailhead ist ein Abenteuer. Jean-Michel kurvt um herabhängende Fichtenäste, lässt uns Geröll aus dem Weg räumen und bleibt zuletzt in einem engen Tal mitten im Nirgendwo stehen. “Da drüben beginnt der Trail”, sagt er und zeigt auf eine Stelle am Rand der Piste. Wir sehen nur üppig wuchernde Flora. Minuten später hat uns der Busch verschluckt.

Ueber-der-Baumgrenze

Wells Gray Provincial Park: Traumhaftes Hiking über der Baumgrenze

Der bisher schönsten  Wildblumenwiese meines Lebens den Rücken zu kehren fällt schwer. Die nächste Stunde geht es auf dem schmalen, von abgestorbenen Ästen und Zweigen übersäten Trail steil bergauf. Bald verstummen die Gespräche in der Wandergruppe. Ich lasse meine Hände über hüfthohes Buschwerk gleiten und sammle Heidelbeeren. Erstklassiger Lebensraum für Grizzlies, denke ich dabei, auch wenn Tay bereits Entwarnung gab. Der einzige Grizzly in diesem Abschnitt sei gestern Abend 50 km von uns entfernt gesehen worden. Beruhigt mich das? Nicht wirklich. Denn wie kann man schon mit Sicherheit wissen, was so alles kreucht und fleucht in diesem Riesengebiet? Jedenfalls bin ich froh, mit einem bärenerfahrenen Guide unterwegs zu sein und heute Abend ein Dach über dem Kopf zu haben. Seien wir doch einmal ehrlich: Die Lust auf Wildnis ist eine Sache. Als unerfahrenes Greenhorn in ihr zu wandeln, eine andere. Etwas später geht die bis dahin vergnügliche Wanderung in echte Plackerei über. Der Atem geht schneller, Schweiß fließt in Strömen. 500 Höhenmeter auf nur 4 km sind kein Pappenstiel. Bevor die Stimmung kippt, erreichen wir die Trophy-Hütte. Sie liegt in einer Felsenarena, hoch über einem kleinen Teich, in 2153 m Höhe.

Hüttenwandern im Wells Gray Provincial Park: Nur mit Guide, wegen der Bären

Tay und Ian ließen das Baumaterial für die Hütten einfliegen und setzten es zu urgemütlichen Refugien mit Küche, Speiseraum und Schlafplätzen unter dem Dach zusammen. Nach dem Abendessen – der niemals müde Jean-Michel serviert kalorienreiche Hausmacherkost – genieße ich vom Balkon aus das Farbenspiel der untergehenden Sonne auf den hängenden Gletschern des Raft Mountain (2450m) auf der anderen Talseite. Alle Rottöne werden durchgespielt, auf purpur folgt tiefblau, und wenig später verdichten die Sterne am Nachthimmel zur Milchstraße. Ich überlege, ob dieser insgesamt gut 40 Trailkilometer vorsehende Trip nicht etwas zu bequem wird. Schließlich habe ich zu Hause den Neid meiner Mitmenschen genossen, als ich ihnen von meinem Plan erzählte, echte kanadische Wildnis unter die Stiefel zu nehmen. Der ist ein echter Kerl, hieß es, der hat keine Angst vor Bären, Mühsal und Mücken. Und jetzt, wo der Tag am schönsten ist, genieße ich von einem Balkon aus die Abendstimmung mit einem Kaffeebecher in der Hand und freue mich auf eine weiche Matratze in einer gemütlichen Koje.

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Wells Gray Provincial Park: Essen fassen!

Doch während der nächsten vier Tage verdiene ich mir zumindest einen Teil meiner Glaubwürdigkeit zurück. Am zweiten Tag besteigen wir den Ptarmigan Peak, einen monumentalen, baumlosen, von subarktischen Moosen bekleckerten Felsenklotz mit fantastischem Blick auf die Trophy Mountains, die Cariboo und die Monashee Mountains. Kein Zeichen menschlicher Anwesenheit zu sehen. Steinadler kreisen, Murmeltiere pfeifen. Am dritten Tag wandern wir zur Discovery-Hütte, es wird ein anstrengender, in die Knochen gehender 12-km-Hike durch ein Tal, über einen nackten Felsenkamm und wieder hinab in eine Senke, wo sich ein tiefblauer Gebirgsee in der Sonne rekelt. Ian und Tay haben ihn Swimmer´s Lake getauft, und – na klar – läuft das auf einen Sprung ins eisige Nass hinaus, das Jean-Michel mit 10,6 Celsius misst. Ich falle fast in Ohnmacht, als der See über mir zusammenschlägt und mir den Atem nimmt. Zurück am Ufer fühle ich mich jedoch zumindest vorübergehend als der Naturbursche – und das allein ist die Aktion wert.

Blick-Table-Mountain

Wells Gray Provincial Park: Kommen wir wieder? Und ob.

Am vierten Tag besteigen wir den Table Mountain, im Gipfelbereich eine Mondlandschaft aus riesigen Granitblöcken mit einmal mehr spektakulärem Rundumblick. Mehr knallig bunte Wildblumenwiesen folgen und ein stiller Gebirgssee, in dem sich ein weiterer weißer Riese ungestört spiegelt. Die Rückkehr zur Piste am fünften Tag ist danach ein Schock. Jean-Michel fährt uns noch zu den Helmcken Falls, fast ist das so, als wolle er uns die Rückkehr in die Zivilisation erleichtern. Doch die viertgrößten Wasserfälle Kanadas beeindrucken mich nur noch mäßig. Ich habe wahre Wildnis gesehen.

 

Weitere Infos über Hüttenwandern im Wells Gray Provincial Park in BC findet Ihr hier:

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2 Comments

  • Reply
    Hans Freuler
    18. April 2013 at 16:50

    Hallo Ole
    Ein wunderbarer Reisebericht mehr, der begeistert. Danke!
    Liebe Gruesse aus Marieville, Hans

  • Reply
    Ole Helmhausen
    18. April 2013 at 17:57

    Danke Hans! Der Rucksack wartet schon wieder .. :)!

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