Bislang habe ich die kanadischen Rocky Mountains auf Straßen und Wanderwegen erlebt. Jetzt war ich auch in ihrem Keller!
Inhaltsverzeichnis
Marsianer im Jasper National Park!
Am Straßenrand, auf halbem Weg zwischen Jasper und Maligne Lake, ziehen wir uns aus. Jeans und Sweatshirts fliegen in Joes Truck, Sneaker und Sandalen in den Kofferraum. Nur die Unterwäsche bleibt an. Dann quälen wir uns in die grau-gelben Gummianzüge und steigen in die dazu gehörenden Schuhe und Klettergeschirre. Zuletzt schließen wir alle Reißverschlüsse und setzen die Helme mit den Stirnlampen auf. An diesem Oktobertag im Jasper National Park ist der erste Schnee der Saison gefallen. Es ist kalt, doch luft- und wasserdicht verpackt schwitzen wir schon jetzt.
Dann steigen wir nacheinander über die Leitplanke und kraxeln im Gänsemarsch einen steilen Hang hinauf. Ein vorbei kommendes Auto drosselt das Tempo. Wir scheinen fehl am Platz auszusehen. Canyoning, in Europa längst etabliert, ist in Kanada noch neu. Auch Joe Storms betreibt seinen Anbieter Rocky Mountain Canyoning erst seit Kurzem. Wir beeilen uns, mit dem drahtigen Mann Schritt zu halten. Joe ist in Form, kein Wunder: Im Hauptberuf ist er Park Warden im Jasper National Park. Frei übersetzt ist das so viel wie ein Polizeibeamter für die Wildnis. Als solcher patrouilliert Joe hoch zu Ross oder auf Skiern das Hinterland des Parks – mit Revolver im Gürtel und kugelsicherer Weste. Denn seine Aufmerksamkeit gilt nicht nur illegalen Campern, sondern auch Wilderern. Und in seinen 17 Jahren bei Parks Canada hat er natürlich auch so manchen Wanderer oder Bergsteiger aus lebensbedrohender Situation gerettet.
Abstieg in den Keller der Rocky Mountains
Joe hat mehrere Canyons im Jasper National Park im Programm. Unser Ziel ist der Two Valley Canyon. Trittsicher wie eine Bergziege stapft er durch den knöcheltiefen Neuschnee bergan. Vom Canyon keine Spur. Wir klettern über umgestürzte Bäume, stolpern tief gebeugt durch dicht verästeltes Unterholz und fragen uns, warum zum Teufel wir an diesem Herbstabend nicht zum Sonnenuntergang am spektakulär schönen Maligne Lake gefahren sind. Wie hat Joe eingangs doch gesagt: “Es ist eng da unten, Wasser rauscht, es ist laut und kalt und es ist stockduster. Das ist nicht nur ein tolles Erlebnis, das testet auch Eure Psyche!”
Noch während wir an seine Worte denken, taucht der Eingang zum Two Valley Canyon auf. Dessen erster Auftritt ist nicht dramatisch wie erwartet, sondern eher fadenscheinig: Die “Gates of the Canyon” sind zunächst nichts weiter als eine harmlose kleine Schlucht, zu der wir ohne Mühe freihändig absteigen. Erst der zweite Blick offenbart, was uns erwartet. Unter schneebedeckten Stapeln kreuz und quer liegender Baumskelette hindurch fließt der Two Valley Creek auf ein mächtiges, gut 50 Meter hohes Felsentor zu. Nur drei, vier Meter breit ist die Schlucht am Boden. Über unseren Köpfen hängen vom letzten Sturm entwurzelte Bäume in prekären Schräglagen. Unsicher einen Fuß vor den anderen setzend, verlassen wir die Welt, die wir kennen, und betreten eine unbekannte ganz aus grauem Stein. Bleiben die Bäume über uns wo sie sind, oder warten sie nur darauf, uns zu erschlagen? Wackeln die Steine, auf die wir treten müssen? Halten die Schneehauben über dem Creek? Und wie glitschig sind die Felsplatten, wie tief die kleinen, dunklen Pools in den Biegungen des Creeks? An Joe können wir uns nicht orientieren, er spaziert mit traumwandlerischer Sicherheit durch diese uns gänzlich fremde Topografie. “Alles klar?” ruft er über die Schulter. Er ist jetzt in seinem Element. Der Himmel über uns ist nur noch ein handtuchbreiter Streifen. Über den Berg zurück geht es jetzt nicht mehr: Zum Auto gibt es nur noch diesen einen Weg.
Im Two Valley Canyon talwärts
Doch Joes Begeisterung steckt an. Yes, alles klar, Joe, let´s go, wir wollen sehen, wie es hinter der nächsten Biegung aussieht! Die ersten meterhohen Felsklötze in unserem Weg werden gemeistert. Wir rutschen die Rinnen hinab, denen der Two Valley Creek talwärts folgt, und landen mit beiden Beinen in den hüfthohen, eiskalten Pools darunter. Für klares Wasser mit sichtbarem Boden gewohnte Anfänger wie uns ist das zunächst entnervend, aber schon nach dem ersten Mal ist zumindest jeder Zweifel an der Verlässlichkeit der Gummianzüge zerstreut. Eine Weile macht sich Euphorie breit. Wir genießen die Stille im Canyon, halten ein paar Mal an, um die letzten Sonnenstrahlen zu beobachten, und studieren schaudernd die makellos glatten Biegungen, die der Two Valley Creek während der letzten hunderttausend Schneeschmelzen mit -zigfacher Kraft aus dem Fels gewaschen hat.
Dann wird es dunkel in der Schlucht. Und eiskalt. Unsere Welt reduziert sich auf den Schein unserer Stirnlampen. Passend dazu wird es jetzt ernst. An zwei, drei Meter hohen Felsstufen lernen wir das Abseilen: rückwärts an die Felskante, dann zum Seil greifen und sich von der Wand weg Richtung Abgrund stemmen. Das ist nicht leicht, weil es gegen jeden Instinkt geht und bedingungsloses Vertrauen in Mensch und Material voraussetzt. Dann langsam, die Beine weiter gegen die Wand gestemmt, Meter um Meter abgestiegen. Nur so behält man die Kontrolle. Und entgeht dem unmittelbar neben einem mit enormer Kraft talwärts schießenden Wasser des Two Valley Creek. Ist es die Kälte und die uns umgebende Schwärze, die uns nun hochkonzentriert zu Werke gehen lässt? Sechs oder sieben dieser Stufen meistern wir, doch dann, gegen Ende der Tour, stehen wir plötzlich vor einem 14 Meter tiefen Abgrund. Der Two Valley rauscht jetzt ohrenbetäubend. “Ok”, schreit Joe, “jetzt genau zuhören.” Auf halbem Weg nach unten macht der schachtähnliche Abgang eine Kurve, sodass wir den Boden nicht sehen können. “Haltet Euch so weit wie möglich links und lehnt Euch so weit wie möglich nach hinten. Wenn Ihr das nicht tut, verliert Ihr den Halt und baumelt den Rest des Wegs im Wasserfall!”
Joe ist ein guter Lehrer. Wir tun wie geheißen, verbannen jeden negativen Gedanken aus dem Hirn und landen eine adrenalingeladene Minute später in einem hüfttiefen Becken am Boden des Schachts. Einer von uns rutscht beim Abwärtsgehen auf dem glitschigen Felsen aus, bumst wie ein nasser Sack gegen die Wand und gerät in den Wasserfall. Doch dank des Gummianzugs kommt außer seinem Stolz nichts zu Schaden. Es ist 22.30 Uhr, als wir den Two Valley Canyon nach viereinhalb Stunden wieder verlassen. Nach dem Hüpfen, Hangeln, Springen und Rutschen in der Schlucht wanken wir über die Straße wie Seebären beim ersten Landgang nach Monaten auf See. “Alle ok”? fragt Joe und schaut lächelnd in die Runde. Alles ok, Joe. Der Ausflug in den Keller der Rockies hat unsere Sinne geweckt und Muskeln, die wir schon vergessen hatten, wieder aktiviert. Und: Wildromantisch war es auch.
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