Kanada allgemein

Die kanadische Eisenbahn: Wie der Tourismus nach Kanada kam

Die Eisenbahn war Geburtshelfer der Nation, Glamour-Event und Tourismus-Pionier, Pleitegeier und Phönix aus der Asche. Bis heute ist Zugreisen in Kanada viel mehr als bloß ankommen. Ein paar Zeilen über ein kanadisches Symbol.

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The Last Spike. Foto: ©Collections Canada

November 1885, 9 Uhr 22: Die bärtigen Bahnarbeiter, die an diesem trüben Novembermorgen mitten in der Wildnis um ein Stück Schiene posieren, schauen mürrisch. Tatsächlich kann sich CPR-General Manager William Cornelius Van Horne eine aufwendige Feier nicht leisten. Canadian Pacific Railway ist knapp bei Kasse. Dabei findet hier in Craigellachie (BC) soeben der größte symbolische Akt seit der Gründung Kanadas 18 Jahre zuvor statt. Direktor Donald Smith, der weißbärtige Herr mit Zylinderhut, wird gleich den letzten Nagel in die Holzbohle jagen und damit den Bau von Kanadas erster transkontinentaler Eisenbahn für vollendet erklären. Doch sein erster Versuch misslingt. Van Horne, der links hinter ihm steht, sieht aus, als würde er am liebsten selbst Hand anlegen. Neuer Nagel, neues Glück. Erneut hebt Smith den Vorschlaghammer. Ein paar Sekunden hält er ihn für den Fotografen in der Luft, dann schlägt er zu – und trifft. Kanada hat seine Verbindung zum Pazifik. Nach einer Kette politischer Skandale und finanzieller Desaster, vor allem aber nach unsäglichen Strapazen, bei denen die Überwindung unüberwindlicher Hindernisse zur Spezialität der Männer vor Ort wurde, hat Kanada endlich seine transkontinentale Eisenbahn.

Nationbuilding: Kanada? Was für ein Kanada?

“The Last Spike” ist das berühmteste Foto der kanadischen Geschichte. Es hängt in jedem Museum, das etwas auf sich hält. Als Alexander Ross es macht, ist Kanada gerade volljährig geworden. Erwachsen bzw. zusammengewachsen ist das junge, unter geografischer Elefantiasis leidende Land jedoch noch lange nicht, dazu wurschteln die einzelnen Provinzen noch immer viel zu viel herum, ohne die Nachbarn, die nur auf beschwerlichen Kutschenreisen über Land erreichbar sind, im Blick zu haben. Allein der Bau des Hauses Kanada ist ein Kraftakt sondergleichen gewesen. 1867 wurde es eingeweiht, doch die ersten Bewohner – Ontario, Québec, New Brunswick und Nova Scotia und allesamt mit eigenen Briefmarken, Zollstempeln und Interessen gegenüber Mutter England unterwegs – sind keineswegs euphorisch und nur nach zähen Verhandlungen der Konföderation beigetreten. Manitoba folgt 1870, Prince Edward Island 1873 – nachdem Ottawa der Mini-Provinz die Zahlung aller Schulden und eine Fährverbindung zum Festland versprochen hat.

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Quer durch den Kontinent: Kanadas Eisenbahn-Pioniere machten das Unmögliche möglich. Foto: © Gary Crallé

Kopfentscheidung statt patriotische Jubelfeier

Mit British Columbia ist es noch komplizierter. Was kann man den 11 000 (weißen) Menschen hinter den Rocky Mountains anbieten, damit diese sich für das neue Gebilde im Osten von Kanada erwärmen? Das Klima ist mild, und wenn man in Victoria einen Brief nach Ottawa schicken will, muss eine amerikanische Briefmarke neben die aus BC geklebt werden, damit ihn das Postamt in San Francisco nach Kanada weiterleitet. Warum also nicht gleich Amerikaner werden? Seit die USA Alaska erworben haben, rufen amerikanische Politiker ohnehin immer lauter nach der Annektierung auch dieses Teils der Pazifikküste. Doch Ottawa zieht einen Trumpf aus dem Ärmel. Als die Delegierten von der Westküste im Sommer 1870 in Ottawa als Bedingung für den Beitritt eine Planwagen-Route von Winnipeg an den Burrard Inlet fordern, trauen sie ihren Ohren nicht. “Was in aller Welt wollen Sie mit einer Planwagen-Route?”, entgegnet Georges-Étienne Cartier ihnen, “die taugt nichts im Winter und ist fürchterlich langsam im Sommer. Warum fragen Sie nicht nach einer Eisenbahn?” Der Vizepremier garantiert den Bahnanschluss sogar schriftlich. Ein Jahr später tritt auch British Columbia der Konföderation bei.

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Luxuriös: Manche Waggons atmen noch das Flair der guten alten Zeit. Foto: ©Gary Crallé

Durch Sümpfe, über Flüsse und Berge

Mit der Eröffnung der Canadian Pacific Railway wird alles anders. Wahrscheinlich ahnt William Cornelius Van Horne es in Craigellachie  schon. Unwahrscheinlich ist, dass der pro-aktive Visionär an diesem Novembertag im Jahre 1885 sentimental zurückblickt. Bah, alles Wasser unter der Brücke. Seine Berufung Ende 1881, weil es den CPR-Bossen bei der Verlegung der noch fehlenden 3085 Gleiskilometer nicht schnell genug voran ging. Das kaum erforschte Terrain in den Bergen. Die Überquerung des Kicking Horse Pass, die Dramen am viel zu steilen Rogers Pass. Und das irrsinnige Bautempo, das die Geldreserven schneller verschlang als erwartet – Schnee von gestern. Wahrscheinlich sieht Van Horne vor seinem geistigen Auge eher den ersten Personenzug in Vancouver einrollen, nach nur sechs Tagen ab Montréal. Er weiß, dass die Strecke schnellstmöglich Geld verdienen muss, und chartert Schiffe zur Herstellung einer Verbindung zwischen Vancouver und Fernost. Bei der englischen Regierung wirbt er um den Vertrag zur Beförderung der Post von Hongkong nach London via Kanada. CPR erhält ihn 1891. Er lässt Telegrafenleitungen verlegen und beteiligt CPR an Siedlungsprogrammen entlang der Bahnlinie und der Einrichtung von Einwanderungsbüros in Europa.

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Van Hornes Schloss über dem Tal: Das Banff Springs Hotel. Foto: ©Christian Heeb

Der weitsichtige Van Horne

Doch der umtriebige Eisenbahner hat nicht nur Einwanderer im Visier. Van Horne will auch Touristen – und schiebt deshalb eine weltweite Werbekampagne an. Als Donald Smith den letzten Nagel einschlägt, liegen in den feinen Salons Nordamerikas und Europas längst seine bunten CPR-Werbebroschüren aus, die nicht nur die Bahnreise anpreisen, sondern auch – ein absolutes Novum in diesen Zeiten – die Schönheit der unberührten Natur Kanadas. Wohlhabende Amerikaner und Europäer sollen in den Bergen wandern, den Anblick türkisfarbener Gletscherseen genießen und sich beim Angeln an klaren Flüssen erholen, kurz: Mit Canadian Pacific Railway können sie die kanadische Wildnis aus erster Hand erleben. Service und Qualität stehen für Van Horne an vorderster Stelle. Für die Reise in die Wildnis lässt er luxuriöse, mit schweren Teppichen und Edelholzvertäfelungen ausgestattete Schlaf-, Speise- und Salonwagen bauen. Als sich  herausstellt, dass diese für die Steigungen in den Bergen ungeeignet sind, schnürt Van Horne die Wanderschuhe – und  macht aus der Not eine Tugend. Über den Bow Falls, in der Nähe einer heißen Quelle, findet er, was er sucht: den schönsten Blick über das Bow Valley auf die schneebedeckten Rockies. Am 1. Juni 1888 eröffnet Canadian Pacific Railway hier das Banff Springs Hotel. Die noble Bleibe, eine Mischung aus schottischem Baronenschloss und französischem Chateau, wird später das Flaggschiff der kanadischen Eisenbahnhotels und, mit weiteren noch folgenden CPR-Hotels (u.a. Chateau Frontenac in Québec City, Chateau Lake Louise, Algonquin in St. Andrews und Empress in Victoria), einen eigenen Architekturstil begründen. Und damit nicht genug. Mit der Kombination aus Zug, Luxushotel und Wildnis hat Cornelius William Van Horne das perfekte Urlaubspaket kreiert. Angesichts des phänomenalen Erfolges schlägt er der Bundesregierung die Schaffung eines Nationalparksystems in den Rocky Mountains vor – heute die zusammenhängenden Parks Banff, Jasper, Yoho und Kootenay.

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Ihren guten Ruf haben Kanadas Züge auch der guten Bordküche zu verdanken.

Nationalsymbol in der Krise

Was folgt, geht als das Goldene Zeitalter der kanadischen Eisenbahnen in die Geschichtsbücher ein. 1904 nickt Premierminister Wilfred Laurier den Bau einer zweiten, weiter nördlich verlaufenden Bahnlinie nach Prince Rupert am Pazifik ab. Die transkontinentalen Eisenbahnen schieben tiefgreifende, im kanadischen Kontext sogar revolutionäre Veränderungen an. Die endlosen Weiten, zuvor nur lästiges Verkehrshindernis, sind plötzlich Aktivposten des jungen Landes. Das insgesamt fast 5000 km lange Korsett aus Stahl führt – und hält – es politisch und wirtschaftlich zusammen. Zum ersten Mal keimt so etwas wie eine nationale Identität. Man beginnt in Zeitzonen zu denken.

Doch während der Güterverkehr bis heute eine wichtige Rolle spielt, erlebt die Personenbeförderung nach dem Zweiten Weltkrieg einen rasanten Abstieg. Kraftfahrzeuge übernehmen die Kurz-, Flugzeuge die Mittel- und Langstrecke. 1977 geht der Personenverkehr von CPR und Canadian National (CN) in der staatlichen, stark subventionierten Eisenbahngesellschaft Via Rail auf. Diese befördert zwar bis zu vier Millionen Passagiere jährlich, verdankt ihren guten Ruf für gutes Essen und hervorragenden Service aber nur einem einzigen Zug, dem zwischen Toronto und Vancouver verkehrenden “Canadian”. Reiseführer beschreiben ihn als einen der großen Touristenzüge der Welt – und spielen damit auf die geschichtliche Bedeutung der von ihm benutzten Ost-West-Trasse, die spektakuläre Landschaft und das reine Fahrvergnügen an.

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Rollender Salon: Ein Dome Car von Rocky Mountaineer. Foto: ©Gay Crallé

In Kanadas Touristenzügen ist der Weg das Ziel

Alsbald nutzen auch private Unternehmen den attraktiven Dreiklang und rentabilisieren damit sonst kaum oder gar nicht mehr benutzte Strecken. Heute erschließen Touristenzüge die schönsten Regionen zwischen Atlantik und Pazifik. Beispielsweise genießen Reisende aus aller Welt im glasüberdachten „dome car“ des Rocky Mountaineer köstlich speisend den Blick in den inselübersäten Howe Sound (BC) und auf die schneebedeckten Coast Mountains. “Sea to Sky Climb” heißt das Angebot. Im Yukon verkehrt die während des Klondike-Goldrausches angelegte White Pass & Yukon Route Railroad parallel zum historischen Chilkoot Trail zwischen Skagway am Pazifik und dem 900 m höher liegenden Carcross, und in Québec verwöhnt der Train du Massif de Charlevoix seine Gäste mit spektakulären Panoramablicken auf den St.-Lorenz-Strom und mehrgängigen Gourmet-Mahlzeiten.

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Immer am St. Lorenz-Strom entlang. Der Train du Massif du Charlevoix ist berühmt für seine tollen Panoramen und sein Bordrestaurant. Foto: ©Tourisme Charlevoix

Sie rollen und rollen also. CPR-GM William Cornelius Van Horne würde sich freuen. Wie lautet doch sein berühmtester Ausspruch? “Wenn wir die Landschaft nicht zu den Leuten bringen können, dann bringen wir eben die Leute in die Landschaft.” Und zwar mit allem Komfort.

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2 Comments

  • Reply
    Hans Freuler
    26. Februar 2014 at 21:55

    Hallo Ole
    Hezlichen Dank fuer diesen interessanten Artikel ueber Canadas Eisenbahnen/Geschichte.
    Lieber Gruss aus Marieville QC, Hans

  • Reply
    HEINRICH WUWER
    6. September 2015 at 14:02

    mich interessiert der rocky mountaineer.

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