Im Juni 2013 hatte ich das Glück, drei kanadische Roadtrip-Legenden unter die Reifen nehmen zu können: den Mackenzie, den Liard und den Alaska Highway (in BC). Ich hatte 12 glorreiche Tage “on the road”. Einer besser als der andere. Lest hier, wie der schönste Tag zustande kam. Und welches Nervenkostüm das beste für Touren “North of 60” ist.
“Mein Angelplatz oder der tote Elch?”, fragt Raymond Michaud, den Stock gegen Bären in der einen und mit der anderen Hand auf seine Skizze zeigend. Ich studiere die durchgezogenen und gestrichelten Linien, die Strichmännchen-Parade, die am Seitenrand vor Bären und unsicheren Abbruchkanten warnt, die “größer als”-Symbole, die Wasserfälle darstellen, und antworte: “Beides!”
Michaud scheint das zu freuen. Auf seinem Campingplatz über den Sambaa Deh Falls ist heute ohnehin nichts los, an diesem warmen Juniabend bin ich der erste Mensch, den er zu Gesicht bekommt. Wir marschieren also los, eine spontane Aktion zur Abendbrotzeit, nördlich vom 60. Breitengrad leuchtet die Sonne den engen Trout River Canyon ja noch eine Weile aus.
Inhaltsverzeichnis
Sambaa Deh Falls (NWT): Der tote Elch in der Schlucht
Bis kurz vor Mitternacht sind wir unterwegs, dann hat Michaud, ein kerniger Mitt-Sechziger, mir alles gezeigt. Die glatten, spielfeldgroßen Felsplatten knapp über dem tobenden Inferno. Sein “fishing hole” in einem dunklen Kehrwasser, wo auch an diesem Abend kapitale Forellen standen und zu dem wir uns durch eine enge Felsspalte abseilten.
Und noch weiter flussabwärts den toten Elch, den ich von einer Stelle gut 100 Meter über dem Fluss auf dem Uferstreifen gegenüberliegen sah. Er grüble noch immer, hat Michaud gesagt und dabei auf die Felswand über dem verwesenden Kadaver gezeigt, wie zum Teufel der Bursche dort unten hingekommen und wie er gestorben sei. Denn abgestürzt sei er nicht, soviel stehe fest.
Ein Rätsel vom Hemingway´scher Qualität: Wer erinnert sich nicht dessen Geschichten vom Leoparden, der tot im Schnee des Kilimandscharo gefunden worden war? Was hatte ihn hinauf getrieben? “Bin neulich sogar ´rüber und hab´ den ganzen Uferstreifen nach Wegen hinauf zur Kante abgesucht. Nichts!” Eine Krähe landet auf den Schaufeln, dann noch eine.
In dieser Nacht träume ich von fliegenden Elchen und rauschenden Wasserfällen.
Unterwegs in den NWT: Bloß immer volltanken!
Die Lektionen dieses Tages: In den Northwest Territories sind handschriftliche Skizzen von Einheimischen die besten Landkarten. Und: ReisePläne sind dazu da, um vergessen zu werden. Denn eigentlich wollte ich an diesem Tag nach Ft. Simpson durchfahren. Und anfangs stand auch alles auf grün.
Ich hatte, Überlebensregel Nr. 1 aller Autofahrer hier oben, vollgetankt, Motto: Man kann nie wissen, was passiert, und Tankstellen pflegen mehrere Hundert Kilometer auseinanderzuliegen. Zweitens hatte die digitale Verkehrstafel in Enterprise, einem verlorenen Nest am Mackenzie Highway, “Simpson Ferry Open” angezeigt. Und drittens war auf dieser Tafel von “wash-outs”, die nach den schweren Regenfällen der letzten Tage ganze Abschnitte des Mackenzie Highway unpassierbar gemacht haben sollten, keine Rede mehr.
Alles schien auf einen weiteren klasse Tag “on the road” hinzuweisen. Frohen Mutes ließ ich den Asphalt hinter mir und brach einmal mehr in die grandiose Leere auf, eine zünftige Staubwolke hinter mir her ziehend ..
Überwältigend: Die große Leere
Die Northwest Territories, kurz NWT, sind so etwas wie Kanadas letzte Frontier. Auf über 1,3 Mio. Quadratkilometern leben gerade einmal 40 000 Menschen. Dass man hier, von der Hauptstadt Yellowknife einmal abgesehen, mehr als einem Dutzend Menschen auf einmal begegnet, steht nicht zu erwarten. Dass Attraktionen wie Wasserfälle, Schluchten und Stellen von hohem Büffel- oder Bärenpotenzial mit Ver- und/oder Gebotsschildern übersät sind, auch nicht.
Insofern waren die ersten Tage für mich eine völlig neue Erfahrung. Wohl war ich mit einem modernen Truckcamper mit allem Komfort unterwegs. Mit Kuschel-Koje, Mikrowelle, Kühlschrank, Dusche. Und reichlich Proviant sowieso. Doch stunden-, manchmal sogar tagelang nur zwei, drei anderen Autofahrern zu begegnen und ansonsten völlig auf mich selbst gestellt zu sein, fühlte sich anfangs sogar von der Wohlfühlzone meines Campers merkwürdig beklemmend an ..
Ft. Simpson Ferry: Fähre kaputt, Stimmung im Keller
Vor diesem Hintergrund fällt es vielleicht leichter, sich meine Gemütslage vorzustellen, als mich zweieinhalb Stunden später an einer Baustelle diese Nachricht erreichte: Fähre außer Betrieb, wann das Ersatzteil kommt, weiß keiner, das kann dauern. Der Überbringer der Hiobsbotschaft, ein Straßenarbeiter mit indianischen Zügen, meinte es ja gut. “Fahr einfach bis zur Fähre und kampiere da. In zwei, drei Tage kannst Du weiter.”
Was der Gute nicht wusste: Ich war von Yellowknife nach Whitehorse im Yukon unterwegs und hatte dafür genau 12 Tage Zeit. Den 1200 Kilometer langen Umweg über Nord-Alberta zu fahren, um bei Ft. Nelson in der Nordostecke von British Columbia den Alaska Highway zu erreichen, dazu hatte ich schlicht keine Zeit. Und außerdem war ich anderntags in Ft. Simpson verabredet: Um zehne morgens stand ein Flightseeing-Trip in das Nahanni National Park Preserve auf dem Programm.
Ein Highlight, dass ich auf keinen Fall verpassen wollte.
Was tun? Umkehren war nicht mehr drin. Nach Enterprise reichte der Sprit nicht aus. Die einzige andere Tankstelle befand sich in Ft. Simpson. Auf der anderen Seite des Liard River. Keinen Einfluss auf dem Lauf der Dinge zu haben, das war neu für mich. Ich beschloss, was blieb mir auch anderes übrig, die Flucht nach vorne und rollte, missmutig vor mich hin brütend, weiter.
Zu meinem Unmut gesellte sich die Sorge um den Straßenzustand. Ein kurzer, aber heftiger Schauer hatte den Mackenzie in eine streckenweise schlüpfrige Schlammpiste verwandelt. Jetzt auch noch liegen zu bleiben, hätte mir gerade noch gefehlt. Auf den Campingplatz bei den Sambaa Deh Falls eine halbe Stunde vor der Simpson Ferry bog ich deshalb nur ab, weil ich genug hatte von diesem Tag.
Feeling NWT
So also lernte ich Raymond Michaud kennen. Wir waren schnell auf einer Wellenlänge. In seinem Büro kamen wir ins Gespräch, und zwei Tassen Kaffee später war alles wieder gut. Von der kaputten Fähre, sagte er, wisse er noch gar nicht, im Juni sei hier ohnehin nichts los. Umgehend hängte er sich ans Telefon, aber in Ft. Simpson konnte auch niemand sagen, wann das Ersatzteil eintrifft.
“Das wird schon werden”, brummte er, “hier oben haut am Ende alles irgendwie hin.” Ob ich die Wasserfälle schon gesehen hätte, wechselte er das Thema und kramte eine, die, Skizze aus der Hosentasche hervor. Die Trails darauf, sagte er, habe er eigenhändig geschlagen. Richtig stolz klang das, und nach einem Blick auf die Kritzelei vergaß ich die unselige Fähre und nahm seine Einladung zu einer Tour durch den Canyon an.
Um Mitternacht dankte ich dem lieben Gott für die kaputte Fähre. Ich hatte einen tollen Tag hinter mir. Im Nachhinein sehe ich die Sache mit der Fähre als so etwas wie eine Reifeprüfung zum Thema “Roadtrip durch die NWT”. Danach reagierte ich nämlich gelassener auf Überraschungen. Und genoss stattdessen mehr. Übrigens klopfte Raymond morgens um sechs gegen meinen Camper.
Sie hätten die Fähre in der Nacht repariert. Ob ich die vorbei donnernden Trucks nicht gehört hätte?
Weitere Informationen über die Northwest Territories
- Northwest Territories Tourism: www.spectacularnwt.de (deutsch)
- Fraserway RV: www.fraserway.com (englisch)
5 Comments
Helmar
3. September 2013 at 13:46Ein sehr schöner Bericht der sich, wer schon einmal im Norden Kanadas war sehr spannend liest. Von den Virgina Falls hätte ich gerne einen kurzen Moment mal das Getose des Wasserfalls gehört, denn das steht in 2 Jahren bei mir an. Dieses Jahr reichte leider die Zeit nicht mehr.
Vielen Dank und einen lieben Gruß aus Berlin
Ole Helmhausen
3. September 2013 at 13:58Vielen Dank für die Kudos, lieber Helmar! Sorry, das Getöse musste hinten anstehen .. Ich drücke Dir die Daumen, dass Du es nächstes Jahr dorthin schaffst! Grüßle aus Montreal!
Monika @ TravelWorldOnline
3. September 2013 at 16:58Ein toller Bericht! Der Norden Kanadas, wie er leibt und lebt. Das bringt Erinnerungen zurück an Touren auf dem Dempster Highway, Fährüberfahrten bei Niedrigwasser und abgerissenen Stoßstangen. Das sind die Dinge, die man nicht vergisst :).
Ole Helmhausen
3. September 2013 at 21:03Abgerissene Stoßstangen?! Erzähl´ mal .. :)
iris und wolfram
13. Juni 2015 at 3:09wir kommen gerade von Ray Michaud, dem flotten Mittsechziger. Er hat uns das Fischen beigebracht und dabei viele unterhaltsame Geschichten erzählt. Auch die perfekte Skizze des, wie er selbst meint, einzigen seit 60 Jahren hier lebenden NICHT First Nations Menschen haben wir genutzt.
Wie schön solche unvergessenen Erlebnisse teilen zu können.
Herzliche Grüße und weiter so ;-))
iris