Seit Menschengedenken haben die kanadischen Nordwestküsten-Indianer nicht über den ihnen heiligen weißen Geisterbären gesprochen. Jetzt tun sie es. Um ihn vor Wilderern zu retten.
Heute muss es klappen. Sonst war alles umsonst. Die Reise hierher, diese zweitägige Flugreise über Vancouver nach Bella-Bella und von dort mit dem Wassertaxi weiter durch die Fjorde und Kanäle der Inside Passage nach Klemtu, dem Hauptort der Kitasoo-Xai-´xai-Indianer auf Swindle Island. Deshalb, und auch weil diese Woche nicht ganz billig war, sind die Aussichten, noch einmal in diesem Leben in dieses isolierte Insellabyrinth vor der kanadischen Pazifikküste zurückzukehren, gering. Und deshalb stehen wir heute bereits um halb sieben Uhr morgens mit dem Gefühl der Dringlichkeit auf der Pier der Spirit Bear Lodge, lauschen dem Klopfen des Nieselregens auf unseren gummibeschichteten Allwetterjacken und warten auf das Motorboot, das uns nach Gribbell Island drei Stunden weiter nördlich bringen soll.
Dort, sagt Tim McGrady, herrsche eine 90-prozentige Wahrscheinlichkeit, die extrem seltenen Kreaturen, für die wir die lange, lange Reise ja gemacht haben, endlich zu Gesicht zu bekommen. Zusammen mit Doug Neasloss, dem jungen Bärenführer aus Klemtu, hat der Manager der stammeseigenen Lodge bis Mitternacht vorm Funkgerät gehockt und mit dem Nachbarstamm palavert. Gribbell Island ist nämlich bereits Gitga´at-Territorium, und auch die Gitga´at machen in Bärenbeobachtung. Leicht scheinen die bilateralen Verhandlungen nicht gewesen zu sein. Die Erleichterung ist McGrady anzumerken. “Heute seht Ihr Spirit Bears, don´t worry”, verbreitet er Zuversicht, als wir ins Wassertaxi steigen. Zehn Minuten später fädelt Skipper Charlie Mason in den Princess Royal Channel ein. Unsere letzte Chance. Bleib´ wo Du bist, Moskmól, wir kommen!
Inhaltsverzeichnis
- 1 Great Bear Rainforest: Raven, der genervte Trickster
- 2 Im Wald der großen Bären
- 3 Great Bear Rainforest: Der Geisterbär lässt spuken
- 4 Lachswanderung à la BC: Bären, Wölfe, Adler & Co.
- 5 Great Bear Rainforest: Schlangen im Paradies
- 6 Touristen-Dollars für Artenschutz
- 7 Der Moskmól kann noch wählerisch sein
- 8 Weitere Infos über die Beobachtung von Geisterbären im Great Bear Rainforest findet Ihr hier:
Great Bear Rainforest: Raven, der genervte Trickster
Uns Stadtmenschen fällt es schwer, loszulassen. Und wie schnell wir vergessen, wo wir sind! Schon der Rabe, der mythische Trickster der Nordwestküstenindianer, kannte uns Pappenheimer. Deshalb machte er, als er die Welt erschuf, einen von zehn Schwarzbären weiß. Auf diese Weise wollte er die Menschen, die schon damals die Sorge umtrieb, zu kurz zu kommen, daran erinnern, dass die Welt anfangs eine eisige Ödnis gewesen war und sie bitteschön dankbar für die Gaben der Natur sein sollten. Mason hat die Geschichte von der Erschaffung des Moskmól, des Geisterbären, schon oft erzählt. Doch wenn er sieht, dass die Botschaft bei seinen Passagieren ankommt, stiehlt sich noch immer ein Lächeln in sein von tiefen Falten zerlegtes Gesicht. So wie jetzt. Während er sich wieder dem Radar zuwendet, gucken wir Bleichgesichter betreten aus der Wäsche. Mason hat uns ertappt, auf frischer Tat gewissermaßen. Denn wenn wir es uns recht überlegen, haben wir keinen Grund, mit dieser Tour unzufrieden zu sein.
Im Wald der großen Bären
Wir sind im Herzen des Great Bear Rainforest: Im Westen die Leere des Pazifik, landeinwärts die bergige Endlosigkeit der Coast Mountains, und zwischen beiden Welten eine Küstenlinie, die auf Meereshöhe ein riesiges Schnittmuster aus tiefen Fjorden, engen Kanälen und unbewohnten Felseninseln ist. Was für eine grandiose Kulisse! In dieser vom Rest Nordamerikas getrennten, nur von kleinen Indianerstämmen bewohnten Welt stürzen Berge so abrupt in den Pazifik, dass Schiffe sich ihnen bis auf wenige Meter nähern können und dabei doch noch über hundert Meter unter dem Kiel haben. Sieben Meter hohe Gezeiten und subarktische Stürme aus Alaska geben in dieser urwüchsigen Welt aus Wasser, Fels und Wald den Ton an, und eine Tausende Kilometer lange Dünung, die seit Urzeiten gegen diese Küste anrennt, verdampft und den größten Nordamerika verbliebenen gemäßigten Regenwald auch an schönen Tagen in dichten Nebel hüllen kann. Über 60 000 Quadratkilometer ist der von Umweltschützern so genannte Regenwald des Großen Bären groß. Er reicht von den Discovery Islands zwischen Vancouver Island und Festland-BC bis nach Alaska. Alte, nie geschlagene Sitkafichten, Hemlocktannen, Rotzedern und Douglaskiefern sind hier noch zu finden, die Wälder sind tropfnass und dräuen düster. In den Wipfeln hängen Nebelschwaden so schwer, als müssten sie sich eine Weile vom Treiben weiter oben ausruhen.
Great Bear Rainforest: Der Geisterbär lässt spuken
Kein Grund zum Meckern also. Seit vier Tagen als Gäste der Spirit Bear Lodge in Klemtu im Great Bear Rainforest unterwegs zu sein, ist ein Privileg. Zwar hat sich der Spirit Bear, den die Wissenschaftler Kermode-Bär nennen und dessen weißes bzw.cremefarbenes Fell sie lieber auf eine seltene Genmutation und die Isolation zurückführen als auf einen genervten Raben, in dieser Zeit rar gemacht. Über die genaue Zahl herrscht ebenso Unklarheit wie über die Frage, ob es sich bei diesen Tieren um eine eigene Subspezies des Schwarzbären handelt. Wissenschaftler gehen von 400 vor allem auf Princess Royal Island lebenden Exemplaren aus, die Kitasoo-Xai-´xai-Indianer halten weniger als 120 für wahrscheinlicher. Doch auf der Suche nach dem Moskmól, der jetzt zur Laichzeit Ende August zum Lachsfischen aus den Wäldern kommt, erleben wir eine Welt, die vor uns nur wenige Menschen gesehen haben und deren Tierreichtum an die Nationalparks Afrikas erinnert.
Wir haben gesehen: einen dicken Schwarzbären, der glücklich und zufrieden in einem vor Lachsen brodelnden Wasserbecken zu Füßen eines kleinen Wasserfalls saß und sich hin und wieder ein maulvoll Sushi einverleibte. Im Unterholz besucht: das “day bed” genannte Schlafzimmer eines Grizzlybären – natürlich war er gerade nicht da – eine deutlich ausgelegene Mulde mit Haarbüscheln an Zweigen wie Lametta, verstreuten Exkrementen und einem alten “rubbing tree”, einem Baum, dessen Oberfläche auf halber Höhe blitzblank schimmerte, weil -zig Bären-Generationen sich daran gerieben haben.
Lachswanderung à la BC: Bären, Wölfe, Adler & Co.
Und der Tag auf der Kiesbank! Sieben Stunden haben wir dort regungslos gesessen und den Kreislauf des Lebens aus nächster Nähe in Aktion gesehen, die Akteure: Zehntausende Lachse in einem flachen Fluss namens Mussel Creek, sieben fischende Grizzlybären, vor, hinter und neben uns, ihre Beute in den Busch schleppend und kurz darauf wieder am Fluss auftauchend für den nächsten Bissen. Und Lachskadaver überall, im Gras, auf Steinen, bis zu 500 Meter landeinwärts, selbst im Tod noch die Verbindung herstellend zwischen Meer, Flussmündungen, Flüssen, Bächen und dem Regenwald, dessen hungrigen Boden sie, herbeigetragen nicht nur von Bären, sondern auch von Wölfen, Bärenmardern, Möwen, Adlern und Raben, verwesend mit wertvollen Nährstoffen düngen. Angst gehabt? “Die wollen nichts anderes als sich den Bauch vollschlagen und dabei ihre Ruhe haben”, pflegten die Kitasoo-Xai-´xai-Guides Doug und Vern Brown über die Bären zu sagen. “Da stören wir nicht, nicht mit plötzlichen Bewegungen, nicht mit aufdringlichem Verhalten.” Wir lernen Demut. Und gesundem Menschenverstand zu vertrauen. Zurück zur Lodge begleiten uns Wale, Delfine, Seeotter, Seelöwen.
Great Bear Rainforest: Schlangen im Paradies
Die Kitasoo-Xai´xai haben den Geisterbären nie gejagt. “Wir wussten schon immer, dass er da war, aber wir haben nie über ihn gesprochen. Schon gar mit Fremden”, erinnert sich Mason abends in der Lodge an frühere Zeiten. Der alte Indianer fährt nicht nur das Wasser-Taxi der Lodge, sondern ist als einer der traditionellen Häuptlinge des Stammes ein Hüter von Erinnerungen. Dem weißen Bären kam das Schweigen der Indianer zugute. Weiße Jäger erfuhren erst gar nicht von ihm. Doch die Zeiten haben sich geändert. Heute schippern nicht nur fischende Indianer, sondern auch Bärenjäger aus British Columbia durch den Great Bear Rainforest. Umso schärfer behalten die Kitasoo-Xai´xai und ihre Nachbarn, die Gitga´at, die Geisterbären im Auge. “Die Geisterbären stehen zwar unter Schutz, nicht aber die Schwarzbären”, beschreibt Tim McGrady beim Abendessen das Problem. “Das macht insofern keinen Sinn, als viele dieser Schwarzbären das Gen der weißen Bären tragen und dieser Genpool durch die Jagd erschöpft zu werden droht.”
Touristen-Dollars für Artenschutz
Ein weiteres Problem ist die Wilderei. Bärenblasen bringen in Asien viel Geld. Zwischenlager mit Dutzenden, ja Hunderten dieser Organe wurden bereits mehrmals von Stammesangehörigen entdeckt. Die Kitasoo-Xai´xai und ihre Nachbarn lassen ihre Territorien deshalb von Aufpassern, den “Watchmen”, kontrollieren. An Wildwechseln installierte automatische Kameras helfen bei dieser Arbeit. Werden Wilderer von den “Watchmen” oder mittels einer Kamera identifiziert, werden diese Informationen an die zuständige Polizeistelle weitergeleitet.
“Bisher konnten die Kitasoo-Xai´xai die Dinge so unter Kontrolle halten”, betont Lodge-Manager McGrady. Auch die Spirit Bear Lodge, eine moderne Unterkunft am Rand von Klemtu, mit schönen Zimmern, Speise- und Gemeinschaftsraum, ist Teil des neuen Umgangs mit den Geisterbären. Der Stamm hat verstanden, dass der Schutz der die Geisterbären produzierenden Schwarzbären entscheidend für die Entwicklung des Tourismus in Klemtu ist – und damit auch für die Zukunft der Geisterbären. “Bei den Verhandlungen mit der Regierung, der Jägerlobby und anderen Nutzern unserer Ressourcen muss unsere Stimme mehr Gewicht bekommen”, sagt McGrady. “Wir müssen deshalb nachweisen, dass es für alle Beteiligten profitabler ist, einen Bären mit der Kamera zu schießen als mit dem Gewehr!”
Der Moskmól kann noch wählerisch sein
Am überzeugendsten sind Einnahmen im sechsstelligen Bereich. Die Spirit Bear Lodge, seit fünf Jahren in Betrieb, visiert deshalb einen Umsatz von 800 000 bis 1 Mio. Dollar mit Bärenbeobachtung an. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Geisterbär. Und der lässt sich auch auf Gribbell Island zunächst nicht blicken. Von einer kleinen, von den Gitga´at hoch über einem Creek angelegten Plattform scannen wir den Fluss und seine Ufer. Regenwald wuchert, ineinander verknotetes Unterholz erweckt den Eindruck einer undurchdringlichen, grünen Wand. Eine Bärenmutter mit zwei Jungen schiebt gemütlich vorbei, doch sie interessiert uns nicht. Die nächsten dreieinhalb Stunden passiert nichts, doch dann, etwa 150 Meter flussaufwärts, löst sich ein heller Fleck aus dem Wald.
Ein Geisterbär, und was für einer! Endlich. Bei einem über den Fluss gestürzten Baum geht er in Stellung und wartet geduldig. Er ist wählerisch, er nimmt nicht jeden Lachs, soviel können wir durch die Objektive sehen. Hin und wieder hebt er den massigen Kopf, schaut nach rechts und nach links, so als überlege er, ob er anderswo vielleicht mehr Glück habe. Er ist geduldig. Der Bauchklatscher passiert so schnell, dass wir nicht rechtzeitig auf die Auslöser drücken. Den Lachs erwischt er jedoch erst nach einer wilden Jagd flussaufwärts. Warum er ausgerechnet diesen wollte, während Dutzende andere vor seiner Nase zu ihren Laichplätzen schwammen, bleibt sein Geheimnis.
Weitere Infos über die Beobachtung von Geisterbären im Great Bear Rainforest findet Ihr hier:
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- Spirit Bear Lodge: www.spiritbear.com
- Spirit Bear Foundation: www.spiritbearfoundation.com
- Raincoast Conservation Foundation: www.raincoast.org
- Reisen zu den Geisterbären: www.sktouristik.de
- Tourism British Columbia: www.hellobc.com
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8 Comments
Ulrike Werner
11. Februar 2013 at 19:32Vielen lieben Dank für diese schönen Videos und den inspirierenden Bericht! Das wird sicherlich eines meiner nächsten Reiseziele!
Ole Helmhausen
11. Februar 2013 at 19:37Liebe Ulrike, vielen Dank für das Lob! Ja, es ist wirklich so etwas wie eine kanadische Serengeti .. Wenn Du Hilfe bei Planung Deiner Reise benötigst, frage mich gern! Alles Gute, Ole
Robert Wassermann
13. Februar 2013 at 0:08Hallo Ole,
nach einem Hinweis in einem Reisebranchen-Newsletter bin ich auf Deinen Bericht gestoßen.
Ich bin einfach nur fasziniert. Natürlich biete ich „Kanada auch zum Kauf an“, aber ich liebe vor allem die unberührte Natur und die Wildnis, der ich mit Erfurcht begegne.
Ein super Bericht von Dir mit tollen Bildern und Videos.
Grüße von Robert
Ole Helmhausen
13. Februar 2013 at 0:15Hallo Robert,
vielen Dank für das Lob – um so mehr, als dies von einem Kanada-Fachmann kommt. Der Regenwald ist ein fantastisches Stück unseres Planeten. Bleib dran, es kommen noch mehr dieser Gesdchichten! Schönen Abend und viele Grüße nach good old Germany
PS: In welchem Newsletter hast Du über meinen Bericht gelesen?
Robert Wassermann
14. Februar 2013 at 10:35Hallo Ole,
in dem Newsletter von countervor9.de:
„Auf der Suche nach dem seltenen Kermode-Bären im kanadischen Regenwald: Reisejournalist Ole Helmhausen beschreibt in seiner Reportage seinen Trip entlang der Küste von British Columbia. olehelmhausen.de“
Gruß nach Montreal
Robert
Hans Freuler
17. Februar 2013 at 2:24Hallo Ole
Herzlichen Dank fuer diese spannenden und lehrreichen Videos, Bilder und Berichte.
Liebe Gruesse, Hans
Ole Helmhausen
22. Februar 2013 at 15:42Gern geschehen!
LG, Ole
Julia Kühn
28. August 2017 at 15:44oh wie wunderbar, da kommt wieder das große Fernweh nach Kanada auf. Wie sehr ich doch die Urwälder und Pazifikküste vermisse.
Lieber Ole ich danke dir für diesen schönen Bericht!