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Edgewalk CN Tower: Abgrundtief und himmelhoch

Seit drei Jahren kann man auf dem 356 m hohen Dach des CN Tower in Toronto frei herumlaufen. Edgewalk heisst diese verrückteste Attraktion der Stadt. Dies ist der höchste derartige Spaziergang der Welt. Hier nun Adrenalin pur. In Text und Video!

Stolze 553, 33 m hoch ist der CN Tower. 34 Jahre lang war er das höchste frei stehende Bauwerk der Welt. Er ist eine grandiose Skulptur, dieser CN Tower zu Toronto, eine von verschiedenen Stelle zu ebener Erde wunderbar zu fotografierende kanadische Ikone,  und er prägt die Skyline der größten Stadt des Landes wie der Eiffelturm die von Paris. Und natürlich ist er die größte Touristenattraktion der Metropole am Lake Ontario. Über zwei Millionen Besucher pro Jahr lassen sich in schnellen Aufzügen zum Lookout in 346m Höhe schießen und zum Drehrestaurant ein paar Meter darüber. Und wem das immer noch nicht hoch genug ist, wechselt dort in den Aufzug zum noch einmal hundert Meter höheren Skypod, einer klaustrophobisch engen, pilzähnlichen Geschwulst rund um den nunmehr bedenklich dünnen Turm, mit widerlich nach außen gewölbten Fenstern, deren einziger Zweck darin besteht,  einem den Magen umzudrehen.

Hier wie dort ist der Blick auf Toronto .. ja was wohl? Na klar: atemberaubend! Ich darf das sagen, weil ich beide schon kenne. Warum also ich jetzt auch noch den Edgewalk machen muss, ist mir, jenseits aller beruflichen Neugierde natürlich, auch dann noch nicht wirklich klar, als ich tief unter dem Turm in einen roten Overall steige und ein gelbes Geschirr mit zwei Karabinerhaken, einem vorne, dem anderen hinten, überstreife. Auch die fünfköpfige Familie aus dem Norden Torontos, die sich mit mir in dieses Abenteuer stürzt, hat keine schlüssige Antwort parat. “Ich gehe, weil Bob geht”, sagt Silvia tapfer. Die beiden Töchter kichern nervös. Bob, ein kerniger Typ mit Bürstenschnitt, sucht nach Worten, schließlich ist der Spaß mit 175 Dollar pro Nase auch nicht ganz billig.  Schwager Roberto sagt: “Weil ich so etwas noch nie gemacht habe!” Geschenkt.

Der Edgewalk ist ein anderthalb Meter breiter, begehbarer und insgesamt 150 m langer Gitterrost, den die Tower-Ingenieure auf das Dach des Drehrestaurants geschraubt haben. Am 1. August wurde er eröffnet. Seitdem kann man den CN Tower also auch noch im Freien umrunden, der besondere Kick: ohne Geländer zum Anfassen, stets ein paar Millimeter neben dem Abgrund, 356 Meter über dem Erdboden. Die Bilder von da oben habe ich schon gesehen und weiss deshalb, was auf mich zukommt. Warum also? Ich bin kein Adrenalin-Junkie, soviel weiß ich sicher. Ich werde schon auf dem Dach meines zweistöckigen Hauses schwindelig. Und mit meinen sportlichen Grenzen habe ich mich abgefunden, die muss ich nicht mehr kennenlernen. Während wir also mit Guide Ron, einem erbarmungslos Mut und Zuversicht versprühenden jungen Kerl mit Helm-Cam und Intercom, im Innern des Turmes himmelwärts sausen, suche ich nach einem plausiblen Antwort. Am Ende fällt mir nichts Besseres ein als die klassische Bergsteigerantwort, die ich, um ganz ehrlich zu sein, schon immer  etwas dämlich fand. Weil er da ist ..

Edgewalk CN Tower Toronto: Freie Sicht und weiche Knie

An dieser Stelle ein Wort zur Sicherheit. Die wird natürlich ganz, ganz groß geschrieben. Erst wurden wir nach Dingen durchgescannt, die Schaden anrichten können, dann mussten wir in den Alkoholtester pusten, denn auf dem Edgewalk hat Hochprozentiges verständlicherweise nichts im Blut zu suchen. Oben, in einem engen Raum mit Laufschienen an der Decke und herabbaumelnden Sicherheitsgurten und Fangleinen, dann die Endkontrolle, von zwei Guides vier Mal und unabhängig voneinander durchgeführt. Geschirr? Check. Karabinerhaken? Check. Gurte, Leinen? Check! In stramm sitzenden Overalls stehen wir nun, mit der Laufschiene über uns verbunden, in Reih und Glied und warten auf unseren Einsatz wie Fallschirmspringer vor dem Gruppenabsprung. Oder, der Vergleich soll erlaubt sein, wie Gladiatoren vor ihrem Auftritt ..

Das Gute vorweg: Die Aussicht allein ist diesen Irrsinn wert. Der Lake Ontario und die 60-stöckigen Bürotürme unter und der Himmel über einem .. ohne fleckiges Plexiglas dazwischen wirkt die Höhe noch viel intensiver. Als wir nacheinander vom Halbdunkel ins harte Tageslicht treten, schlägt uns der feucht-warme Wind vom See entgegen und bleibt singend in den Laufschienen über dem Edgewalk hängen. Guide Ron spielt Empfangskomitee. Mit gestreckten Beinen und breitem Grinsen, den Allerwertesten weit über dem Abgrund, hängt er fröhlich winkend im Vakuum und heißt uns an seinem Arbeitsplatz willkommen. Ich bin der Letzte und überlege, ob ich gerade eine Panikattacke erlebe. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich nämlich butterweiche Knie. Ron wartet nicht, bis mein Gehirn noch konkretere Angstsignale ausschickt, und nennt die erste Aufgabe. Ich soll so weit nach vorne gehen, bis meine Schuhspitzen über die Kante ragen. “Toes over Toronto” heißt das im Edgewalk-Jargon, es soll uns, haha, an die Höhe gewöhnen. Zu ebener Erde kein Ding. Doch hier oben sind meine Füße plötzlich so schwer wie Betonklötze. Mit winzigen Schritten schleppe ich mich an die Kante, werfe einen Blick auf das Gewusel tief unter mir und beschließe ohne Umschweife, dass ich nicht in meinem Element bin. Bob und Co. tun sich leichter. Roberto tritt forsch nach vorn, guckt und genießt, und tritt zurück ins Glied. Tochter Lindsay spaziert an den Rand, als habe sie etwas in einem Schaufenster entdeckt. Von Stress keine Spur. Auch bei der nächsten Übung ein paar Meter weiter mache ich nicht die beste Figur. Ich soll mich, mit dem Hinterteil zum Rest der Welt, meinem Geschirr anvertrauen und mit gestreckten Beinen über die Kante hängen. “Ist schön bequem”, schreit Strahlemann Ron, und überhaupt, “die Leinen halten über 15000 Pfund, da bleibst Du uns erhalten!” Wieder der Beton in den Füßen, dieses Mal gepaart mit schweißnassen Händen. “Siehst Du diese Hand hier?” fragt Ron und tippt auf meine rechte Hand.

Im Video, das alle Edgewalker als Zugabe erhalten, sehe ich später, dass ich mich an die Leine klammere wie ein Schiffbrüchiger kurz vorm Ertrinken. Roberto dagegen jauchzt glückselig. “Loslassen, Arme ausbreiten und nach unten schauen”, befiehlt Ron. “Aaah, 356 Meter!” Jetzt hasse ich den Kerl, auch wenn ich lächle, und tue wie mir geheißen. Die unvermeidliche Titanic-Pose ´- à la Kate Winslett am Bug der Titanic – folgt wenige Minuten später auf der anderen Seite des CN-Tower. Doch da verweigere ich Ron endgültig die Gefolgschaft. Als Einziger übrigens. Doch dies ist die erste Entscheidung hier oben, die sich richtig anfühlt. Nachdem ich das realisiert habe, absolviere ich den Rest des Spaziergangs – Ron zeigt uns jetzt die schönsten Gebäude der Stadt – mit Bravour und kann sogar genießen. Als ich wieder unten ankomme, habe ich immer noch Butter in den Knien. War´s das wert? Ich würde sagen, ja. Aber auf ein zweites Mal kann ich gut verzichten.

 

Mehr Infos zum Edgewalk auf dem CN Tower von Toronto findet Ihr hier:

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7 Comments

  • Reply
    Hans Freuler
    11. März 2013 at 18:39

    Hallo Ole
    Herzlichen Glueckwunsch zu deinem Mut!!!
    Gruss, Hans

  • Reply
    Ole Helmhausen
    11. März 2013 at 19:35

    Danke, Hans!

  • Reply
    Sabine Bahr-sarnes
    12. März 2013 at 10:16

    Hallo Ole,
    ich bin beeindruckt über Deinen Mut – die videos sind toll und es macht unheimlich viel Spass den bericht zu lesen, er ist sehr launig geschrieben

  • Reply
    Ole Helmhausen
    12. März 2013 at 13:12

    Danke Sabine! Als nächstes steige ich in einen Wingsuit .. hm, lieber doch nicht!:)

  • Reply
    Sabine
    22. Juni 2013 at 15:51

    Fantastischer Bericht! Glückwunsch!!

  • Reply
    Andreas
    19. September 2013 at 9:14

    Da kann ich Sabine nur zustimmen, es ist echt ein fantastischer Bericht

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