Während sich in Whistler & Co. die Touristen stapeln, rollt man auf dem Cariboo Plateau im zentralen Süden von BC in Kanadas Westen noch immer auf leeren Straßen durch spektakuläre Wildnis – und begegnet dabei jenem Pioniergeist, der sie einst erschlossen hat.
Man schreibt das Jahr 1861. Als die Gründer-Brüder aus Pennsylvania am Fraser River für einen Sack Kartoffeln satte 20 Dollar hinblättern müssen, lassen sie den Goldrausch in Barkerville sausen, kaufen oben auf dem Cariboo Plateau und unten im Canyon Land und werden Rancher und Farmer. Ihre Nachkommen heiraten Indianerinnen und die Töchter deutscher Siedler-Nachbarn. Aus dem -ü wird ein -i, und während der nächsten Jahrzehnte züchten die Grinders Rinder und Pferde, schlagen Vieh- und Wagontrails durch die Wildnis und bauen Straßen. Heute begegnet man in der Gegend rund um Clinton alle Nase lang einem Grinder.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Die Cariboo: Einmal im Monat zum Einkaufen fahren ist „oft“.
- 2 Cariboo und Chilcotin: Wer hier draussen lebt, muss alles können
- 3 Im Chilcotin: Die Alten erinnern sich noch gut an die Anfänge
- 4 Im Chilcotin: Wilde Ritte und mit dem Lasso gefangene Berglöwen
- 5 Bella Coola Valley: Trophäenjäger gegen Umweltschützer
- 6 Weitere Infos über die Region Cariboo Chilcotin Coast in British Columbia findet Ihr hier:
Die Cariboo: Einmal im Monat zum Einkaufen fahren ist „oft“.
“Darum sind wir also hier”, grinst Roy Grinder, 69, sein zahnloses Lächeln, “wegen eines Sacks Kartoffeln.” Roy, gertenschlank und kerzengerader Gang, ist einer der letzten echten Cowboys zwischen Cache Creek und 70 Mile House. Sein erstes Rodeo bestritt er mit 13 Jahren, sein letztes mit 63. In diesem halben Jahrhundert auf Pferde- und Bullenrücken hat er sich, sagt er, sämtliche Knochen gebrochen, das linke Handgelenk gleich sieben Mal. In einer einzigen Saison. Roy haust in einer sympathischen Bruchbude mit wild wucherndem Garten und einer Pferdekoppel mit einer schönen braunen Stute darin – auf einem spielfeldgroßen Vorsprung mit Blick auf den mächtigen Fraser River, der einhundert Meter tiefer in weiten Schlingen zum Pazifik mäandert. Gleich hinter Roys Haus recken sich die Canyonwände zum 2-300 Meter höheren Plateau empor. Nach Clinton, neben der so luxuriösen wie einsamen Echo Valley Guest Ranch auf dem Plateau die einzige Ansammlung von mehr als zehn Menschen weit und breit, sind es 50 Minuten Holperstrecke durch enge Täler und Schluchten. Roy fährt zum Einkaufen dorthin. Oft, wie er sagt. Einmal im Monat, erklärt er auf Nachfrage, und dabei entgeht ihm völlig, dass dies in fremden Ohren irgendwie lustig klingt.
Roys Canyon ist im übrigen breit und tief genug, dass ein Sportflugzeug bequem darin wenden könnte. Tatsächlich ist er so spektakulär, dass es einen wundert, ihn in keiner einzigen Broschüre zu sehen. Wer es jedoch bis zum alten Cowboy hinunter geschafft hat, ahnt, warum das so ist. Die High Bar Road, wie die meisten Wildnisstrecken hier ein Grinder-Werk und Roys einzige Verbindung zum Rest der Welt, ist nicht wirklich eine “road”. Es ist eine raue Piste, deren loser Schotter hart gegen die Radkästen prasselt und die Räder in den engen Serpentinen durchdrehen und den Wagen schwimmen lässt. Oben auf dem Plateau warnen Schilder nicht umsonst in fetten Buchstaben: “Danger! Extremely steep and narrow road. Not recommended for public use!” Sie zu teeren, war nie Thema. Zu teuer, zu wenige Anwohner. Zu Roy würde das auch nicht passen.
Cariboo und Chilcotin: Wer hier draussen lebt, muss alles können
Der Cowboy, der als kleiner Junge über 100 Meilen reiten musste, um streunende Rinder zu finden, weil es damals keine Zäune gab, gehört zu dieser kraftvollen Landschaft im entlegenen Innern von British Columbia wie die Salbeibüsche und das Grasland auf dem Plateau. Gerade hat er einen frischgebackenen Brotlaib aus dem Ofen gezogen, jetzt geht er nach seinen Tomaten hinter dem Haus schauen. Er blinzelt in die Sonne und reckt sich, dass es beängstigend knackt. Die Stute wiehert leise, ein warmer Wind weht durch den Canyon. Roy lächelt. Dies ist seine Welt. Ein zeitloser Kosmos, unberührt von Stress, Geld- und Zukunftssorgen. Roys Prioritäten sind unmittelbarer. “You know, hier draußen sind wir alles. Gärtner, Hufschmied, Tischler, Klempner, Elektriker, Schweißer. Und Bäcker. Daran hat sich seit der Sache mit den Kartoffeln nichts geändert.”
Der Fraser River teilt das Cariboo-Plateau in zwei Hälften. Die Region gleichen Namens, hügelig und dicht bewaldet, erstreckt sich östlich des Flusses und läuft in den 3000 m hohen Cariboo Mountains aus. Westlich vom Fraser beginnt das Chilcotin, weites Grasland meist, das abrupt vor den schneebedeckten Viertausendern der Coast Mountains endet. Die hier lebenden Indianerstämme gehören zu den letzten Kanadas, die Kontakt zu Weißen aufnahmen, und bis heute liegt das Chilcotin abseits der Verkehrs- und Touristenströme. Städte, die diesen Namen verdienen, gibt es nur wenige, Einwohner pro Quadratkilometer noch weniger. Ortschaften wie Dragon und Alexis Creek, auch in British Columbia so gut wie unbekannt, sind für ihre Bewohner urbane Zentren, um die sich der Alltag dreht, die zwei einzigen Straßen, die Highways 97 und 20, veritable Lebensadern. Die Pisten, die von ihnen abzweigen, führen zu entlegenen Seen und Provinzparks – wenn sie nicht vorher irgendwo in der Wildnis versickern.
Im Chilcotin: Die Alten erinnern sich noch gut an die Anfänge
Die ersten Weißen erschienen vor wenig mehr als 150 Jahren auf der Bildfläche, des Goldes bei Barkerville wegen. Als das Edelmetall versiegte, zogen die Abenteurer weiter. Die bodenständigeren unter ihnen dagegen, Männer wie die Gründer-Brüder, sattelten auf Rancher um, gründeten Familien und hoben die Cowboy-Kultur dieser Gegend aus der Taufe. Sechs, sieben Generationen später sind viele der Ranches und Betriebe des Plateaus noch immer in Familienbesitz. Dort ist die Vergangenheit noch nicht zu Historie vertrocknet, sondern erzählte, oft selbst erlebte und mit saftigen Anekdoten gewürzte Geschichte.
“Fast immer saß er in seiner alten Planierraupe mit dem Hintern über dem Abgrund. Der war so tief, dass ich überlegte, was schlimmer für ihn war: auf dem Talboden zerschmettert zu werden oder unterwegs dorthin zu verhungern.” Gerry Bracewell, 91 Jahre alt, filmte ihren späteren Mann beim lebensgefährlichen Bau der Straße von Anahim Lake nach Bella Coola. “Ich hatte solche Angst um ihn, dass ich kaum drehen konnte!” Mut, Tatkraft, Fleiß und Unabhängigkeit, gewürzt mit derbem Humor: Gerry verkörpert den Pioniergeist auf dem Plateau wie keine andere. Die rüstige Matriarchin des Bracewell-Clans pendelt heute zwischen Williams Lake und ihren Kindern in Tatlayoko Lake am Hwy. 20. Wegen ihres Scharfschützentalents und filmstarreifen Aussehens manchmal auch die Annie Oakley des Chilcotin genannt, war sie mit Anfang 20 der erste weibliche Profi-Guide für Jäger. In den vierziger und fünfziger Jahren betrieb sie eine Ranch am Ende der Piste zum Tatla Lake, einem bildschönen Gebirgssee zu Füßen der schneebedeckten Coast Mountains. Sie führte Landvermesser durch die noch nicht kartografierte Wildnis und legte Trails und Pisten an.
Frisch geschieden, packte sie 1952 eine Filmkamera ein und fuhr mit ihren beiden Söhnchen aus erster Ehe auf dem gerade gebauten Hwy. 20 nach Anahim Lake, um dessen Verlängerung durch das unwegsame Küstengebirge zum Pazifik auf Zelluloid festzuhalten. Der Bau der sog. Freedom Road, der die sechs Jahrzehnte während Isolation der Menschen im Bella Coola Valley beendete, war eine echte Bürgerinitiative. “Die Regierung wollte die Straße nicht bauen, also nahmen wir Einheimische die Sache in die Hand.” Arbeiter, Landvermesser und Sprenger waren freiwillig und unbezahlt dabei. Die beiden Planierraupen waren geliehen, und auch der Ladenbesitzer in Anahim Lake, der die Verpflegung der Arbeiter übernahm, sah keinen Heller. Als die Bautrupps aus Bella Coola und Anahim Lake ein Jahr später aufeinanderstießen, hatten sie ein Meisterwerk vollbracht. Und Gerry hatte sich in Alf Bracewell, den Mann auf der Planierraupe, verliebt. Am Tatla Lake bauten die beiden später unweit der alten Ranch eine Wildnis-Lodge, die auf Reit- und Wandertouren spezialisiert ist und inzwischen von einem weiteren Sohn geführt wird.
Im Chilcotin: Wilde Ritte und mit dem Lasso gefangene Berglöwen
Es scheint nichts zu geben, was die Menschen hier nicht können. Geschichten erzählen gehört dazu. “Einmal wurde ich von drei Grizzlybären verfolgt”, erinnert sich Gerry. “Erst sah ich nur einen, aber dann kamen zwei weitere aus dem Busch.” Sie brachte sich in Sicherheit, indem sie im Galopp über eine Felskante setzte und ihr Pferd auf den Hinterläufen zum Fluss hinunterrutschen ließ – ein Manöver, das man höchstens in einem Western sieht. Oder die Sache mit dem Berglöwen. “Meine Söhne Barry und Marty fingen einmal einen Cougar ein. Mit dem Lasso”, sagt sie und schmunzelt. Nachdem die beiden den Cougar auf einen Baum getrieben hatten, stieg Marty auf den Baum daneben und warf der Raubkatze das Lasso um den Nacken. Doch als er begann, das Seil anzuziehen, sprang die große Katze von ihrem Baum herunter und begann auf den von Marty zu klettern. “Barry musste den Knoten blitzschnell lösen, um Marty zu retten.” Gerry lächelt vergnügt. “Das war wohl die schnellste Catch-und-Release-Aktion, die es je bei uns gegeben hat!”
Dem Pioniergeist auf dem Plateau lässt sich noch eine weitere Eigenschaft hinzufügen: die reflexartige Abwehrhaltung gegenüber Außenseitern, die glauben, den Einheimischen Vorschriften machen zu dürfen. Vor allem beim Thema Jagd fühlt man sich falsch verstanden und unfair behandelt. Dieser Tage ist das besonders im Bella Coola Valley so. Auch wenn die Freedom Road heute die gerade mal 2000 Menschen im Tal mit dem Rest des Landes verbindet – Die Anfahrt auf der zwei-, meist aber nur einspurigen und nur knapp am bodenlosen Abgrund vorbei schrammenden Schotterstraße und ihr bis zu 18-prozentiges Gefälle, das den Fahrer an die Sitzkante rutschen lässt .. sie verstärken das Gefühl, eine andere, nur oberflächlich bekannte Welt zu betreten. Sechs Generationen haben dieses enge, von fast senkrechten Zweitausendern umzingelte Tal in ein tolkien´sches Auenland verwandelt. Auf dem Weg zum Ozean schlägt sich die Straße erst durch uralte, immergrüne Zedern- und Douglasienwälder, dann passiert sie Kornfelder, Viehweiden und kleine Weiler mit schönen Holzhäusern auf gepflegten Grünflächen. Ein kleines Paradies – läge nicht eine seltsame Starre über dem Tal.
Bella Coola Valley: Trophäenjäger gegen Umweltschützer
Bis vor neun, zehn Jahren galt das Bella Coola Valley als ein Zentrum der Trophäenjagd. Sportjäger aus aller Welt kamen hierher, um Großwild zu erlegen. Ganz oben auf ihrer Wunschliste: Grizzlybären. Um die Jahreswende 2004/05 war die Trophäenjagd jedoch zuende – zumindest für Leonard Ellis. Bis dahin hatte der 61-Jährige, ein kräftiger Mann mit freundlichem Gesicht und schneeweißem Haar, das mit über 10 000 Quadratmeilen größte Jagdrevier an der Küste betrieben. Dann aber verkaufte er, zermürbt von den, wie er sagt, Hetzkampagnen der Umweltschützer, seine Jagdlizenzen an eine Koalition aus Umweltschutzgruppen und stieg aus dem Geschäft aus. Seitdem veranstaltet er Bärenbeobachtungstouren. Verbittert sei er nicht, doch das mag man ihm nicht so recht glauben. “Wie würdest Du Dich fühlen, wenn Du von Großstädtern und Computerfreaks, die nicht den leisesten Schimmer vom Leben hier draußen haben, an den Rand des Ruins getrieben worden wärst?” Die Jagd, erklärt Leonard, sei schon immer Bestandteil des Alltags im Tal gewesen. “Die Grizzlies eine bedrohte Tierart? Aber nein!” Im Bella Coola Valley verstehe man sich als Gärtner, der sät und erntet und seine bevorzugten Sorten vor Unkraut schützt. Auf die Jagd übertragen, bedeute dies, dass weniger wünschenswerte Arten wie Wölfe “geerntet” würden, da sie den Bestand bevorzugter Arten wie Bergziegen, Elchen und Hirschen gefährden. “Schau Dir mal an, was passiert, wenn bestimmte Arten nicht mehr gemanagt werden”, wettert er. “Drüben in Ocean Falls posten sie inzwischen Bilder von Wölfen, die in aller Ruhe auf der Hauptstraße flanieren, auf ihrer Facebook-Seite. Und hier im Bella Coola Valley lungern immer häufiger Grizzlies in unseren Gärten herum!”
Das Ende der Trophäenjagd hatte auch weitreichende wirtschaftliche Konsequenzen für das Tal. So kostete ein 8-tägiger Jagdtrip mit Leonard 40 000 kanadische Dollar – Lizenzen, Übernachtungen und Verpflegung inklusive. Innerhalb eines Zeitraumes von fünf Jahren durfte er 42 Grizzlybären auf seinem Territorium töten lassen. “Dabei haben wir nur die alten Grizzlybullen erlegt”, betont Leonard, “die, die schon reproduziert hatten und nun mit Vorliebe den neugeborenen Nachwuchs fraßen, um die Weibchen wieder paarungsbereit zu machen. Junge Männchen, Weibchen und ihre Junge haben wir nie angerührt.” Von den Einnahmen bezahlte Leonard seine 16 Guides, die Köche und die Crews seiner beiden Schiffe, auf denen die Gäste zur Jagd schipperten. Auch die regionalen Airlines und die Lodges im Bella Coola Valley profitierten vom Jagdtourismus. “Die Trophäenjagd generierte Hunderttausende Dollar in Spin-offs für das ganze Tal!” Heute verdienten seine und die von anderen Anbietern im Tal geführten Bärenbeobachtungstouren dagegen nur einen Bruchteil davon.
Seinen drei Blockhütten für Touristen hinter seinem Haus hat Leonard diesen Sommer eine Vierte hinzugefügt. “Meine Zeit als Jagd-Guide ist vorüber”, sagt er und lässt sich auf einem der Stühle auf der Veranda nieder. Hinter den Zweitausendern geht die Sonne unter, schnell werden die Schatten im Tal länger. Der einstige Herrscher über 10 000 Quadratmeilen Küstenregenwald nimmt einen Schluck Wasser und räsoniert über die Zukunft. “Diese Küste ist so unendlich groß, dass beides möglich wäre. Bärenbeobachtung und Bärenjagd.” Ein Waschbär schnürt über den Rasen und verschwindet zwischen den Blockhütten im Wald. Leonard Ellis schaut ihm nach und trinkt noch einen Schluck. Die Kritiker aus den Städten, sagt er leise, sollten sich lieber um ihren ausufernden Siedlungsbrei kümmern, als den Menschen im Tal Vorschriften zu machen. Allerdings sieht er auch bei den “locals”, den Einheimischen, reichlich Lernbedarf. “Hier muss man noch lernen, bei einem Grizzly im Garten erst zum Telefon zu greifen anstatt zum Gewehr.”
Ersch. am 3. Mai 2014 in der FAZ.
Weitere Infos über die Region Cariboo Chilcotin Coast in British Columbia findet Ihr hier:
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- Cariboo Chilcotin Coast: www.landwithoutlimits.com
- Destination British Columbia: www.hellobc.com
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1 Comment
Brückner
14. Mai 2014 at 9:11Dieser Artikel weckt viele Erinnerungen an Besuch in BC. Von 1994 an war ich sehr oft in BC, von Williams-Lake
bis zur Grenze zum Yukon Terretory.
Ein rauhes, aber traumhaft schönes Land. Die größte Erfahrung für mich war in einem kleinen Zelt ohne Angst
schlafen zu können obwohl wir im Bärengebiet waren.
Hans Ulrich Brückner