Kanada allgemein Kanadas Osten

French River, Ontario (1): Auf dem Fluss der Stöcke-Schwinger

Bevor es Straßen gab, wurde der Verkehr in Kanada auf Flüssen abgewickelt. Das von den Ureinwohnern seit Jahrtausenden genutzte “Verkehrsnetz” war dicht gewoben: So viele Flüsse und Seen gab es, dass man vom St.-Lorenz-Strom im Osten bis vor die Rocky Mountains, hinauf in die Northwest Territories und von den Großen Seen aus auf dem Mississippi bis zum Golf von Mexiko paddeln konnte. Der French River in Ontario war in dieser Zeit der wichtigste Wasserweg Nordamerikas: Wer nach Westen wollte, musste hier durch. Ich paddelte ein paar Tage im Kielwasser der Ureinwohner und Entdecker.

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Blue Chute Rapids: Alles kommt auf den Winkel an .. :) | @ Fred Speed, Travel Ontario

Die letzte Sekunde vor dem Kentern ist das Schärfste. Du weißt, gleich passiert es, und Du kannst nichts mehr dagegen tun. Absolut nichts. Außer vielleicht ein Stoßgebiet zum Himmel zu schicken. In diesem Moment blitzen Bild- und Gesprächsfetzen auf, zeitgleich, noch schneller als in “Lola rennt”, und doch irgendwie langsam genug, um sie nachher abzurufen. Morgens gab´s Omelett. Zu Hause stapelt sich die Arbeit. Burt Reynolds hat auch gepaddelt. Mensch, die Brille! Heute Abend wolltest Du den Riesling aufmachen. Und über dieser verrückten Bildfolge taucht ein riesengroßes Sch- auf. Wie auf einem Spruchband zieht es an Deinem geistigen Auge vorbei, gezogen von einem zappelnden Männlein, dem berühmten kleinen Mann im Ohr. Hab´s Dir doch gesagt, Du Vollidiot, kreischt es, aber Du kannst ja nicht hören, dabei hast Du vom Paddeln keine Ahnung, und jetzt ersäufst Du gleich wie eine Ratte, geschieht Dir ganz recht!

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Nach den Rapids ist vor den Rapids. Und zwischendurch durchaus erleichtert .. | @ Fred Speed, Travel Ontario

Kentern ist cool. Nachher ..

Dann kippt Dich das Kanu aus. Du rechnest mit dem Schlimmsten. Die Felsen unter Wasser werden Dir alle Knochen brechen. Die spitz nach oben ragenden Baumstümpfen werden Dir die Gedärme herausreißen. Das kalte Wasser wird Dich in Sekundenschnelle in einen Eiszapfen verwandeln. Instinktiv alle Poren und anderen Körperöffnungen dicht machend, durchschlägst Du die Wasseroberfläche. Dann kracht der Fluss über Dir zusammen. Das Crazy-Programm im Kopf schaltet sich aus. Fast ist das eine Erlösung. Stattdessen schaltet sich der Discovery Channel ein. Du siehst gelb-braunes Wasser, Luftblasen hüllen Dich ein, es tost und wirbelt, ein unwirkliches, bedrohlich-schönes Spektakel. Oben ist es hell, unten dunkel, da willst Du, wenigstens das weißt Du genau, ums Verrecken nicht hin. Du drängst also dem Licht entgegen, mit aller Kraft, das Paddel in der einen Hand und mit der anderen Wasser schaufelnd. Als Du mit dem Kopf wieder durch die Oberfläche stößt, gibt´s den nächsten Programmwechsel. Es rauscht und gischtet, ein paar Meter flussabwärts ein roter Streifen, das Kanu, es treibt kieloben, mit dem Kollegen im Schlepptau. Alles halb so wild also. Und das Wasser hat beinahe Schwimmbad-Temperatur.

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The Lodge at Pine Cove: Die beste Ausgangsbasis für Trips auf dem French River | @ Fred Speed, Travel Ontario

Kanada hat Geschichte. Und wie ..

Jeff war früher Ringer und macht auf diesem Trip die Bilder. Norman kommt aus dem nahen Dokis Ojibwa Reserve und ist Jäger, Fischer und Betriebswirt. Alex hat mit Immobilien sein Geld gemacht und zog irgendwann mit Kind und Kegel an den French River, wo er eine alte Lodge auf Vordermann brachte und als The Lodge at Pine Cove vermarktet. Toni war Stierkämpfer, Straßenmusiker und soff mit Picasso. Zuletzt war er Raketen-Ingenieur. Bis er zum ersten Mal in ein Kanu stieg und sich für ein paar Tage in die Wildnis absetzte. Danach kündigte er seinen Job, um sich die Hälfte des Jahres auf den Seen und Flüssen in Kanadas Norden herumzutreiben und zum kanadischen Kanu-Guru hoch zu schreiben. Die Gewässer der Provinz Ontario kennt er wie seine Westentasche. Der French River ist sein Lieblingsfluss. “Paddeln kannst Du überall in Kanada”, sagt er, als er zum Put-In bei der Pine Cove Lodge kommt. Der Mann ist ein Bulle. Seinen Seesack, den er nach Indianer-Sitte mit Stirnband schleppt, wuchtet er ins Kanu, als habe er nicht 70, sondern 27 Lenze auf dem Buckel. “Aber durch das spannendste Kapitel der kanadischen Geschichte paddeln kannst Du nur hier!”

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Alex´ French River Hilton: Abendliche Paddeltour in den Sonnenuntergang | @ Fred Speed, Travel Ontario

Abenteurer, weichgespülte und hartgesottene

Beim Trocknen am Ufer bist Du heilfroh über die blöde Schwimmweste. Und dass Dein Kanu aus Kunststoff ist und einen kräftigen Bums ab kann. Prima auch, dass Du Dich in schnell trocknendes Polyester hüllen konntest. Vor allem aber bist du froh darüber, bloß aus Lust und Laune unterwegs zu sein. Denn vor 200 Jahren wäre der French River für Dich nur eine klitzekleine Etappe auf der Reise nach Westen gewesen. Damals hättest Du die Strecke Montréal – Lake Superior – Montréal gemacht, schlappe 4000 Kilometer, und zwar im kurzen kanadischen Sommer. Du hättest bis zu 18 Stunden am Tag gepaddelt und dabei eine 40er-Schlagzahl pro Minute hingelegt. Zeit war nämlich Geld damals. Für jeden Tag, den Du früher zurück warst, hätten Deine Bosse, die steinreichen Schotten in Montréal, mit fetten Prämien gewunken. Unterwegs hätte es nur Bohnen und gepökeltes Schweinefleisch gegeben. Dein Kanu, ein elf Meter langes Gefährt aus Birkenrinde, hättest Du zusammen mit Deinen Kollegen um Dutzende von Stromschnellen herumschleppen müssen. Und dabei hättest Du auch noch bis zu 90 Kilo Gepäck im Kreuz gehabt. Und Deine Bosse, die Frasers, McGills und McTavishs, hätten Dir Deinen Platz im Kanu nicht nur gegeben, weil Du taff und stark wie ein Ochse, sondern auch Nichtschwimmer warst. Deshalb würdest Du nämlich, das wussten sie, auf die Ladung ebenso gut aufpassen wie auf Dich selbst. Und wenn trotzdem etwas schief ging, nun gut, Deine schweren Wollklamotten hätten Dein Leiden schon noch verkürzt..

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Nice catch! Frische Forelle, vom River direkt in die Pfanne. Was schmeckt besser? | @ Jeff Speed, Travel Ontario

French River: Paddeln durch Kanadas Nadelöhr

Toni grinst. Die “Voyageurs”, wie die franko-kanadischen Pelzhändler von einst heißen, sind sein Lieblingsthema. Mit zwei Kanus und einem Kajak paddeln wir aus der Wolseley Bay zunächst in den Main Channel. “Diese Kerle vollbrachten guinessbuchreife Leistungen”, sagt er, während er sein Paddel durch das dunkle Wasser zieht. Sommer für Sommer. Ihr Ziel: Fort Williams am Westufer des Lake Superior. Dort tauschten sie ihre Handelsware gegen Biberfelle aus dem Norden. Ihr Weg durch die straßenlose Wildnis folgte uralten indianischen Kanurouten. Von Montréal aus ging es zunächst auf dem Ottawa und Mattawa River zum Lake Nippissing. An dessen Westufer fädelten sie in den 120 Kilometer langen French River ein. Der brachte sie zum Lake Huron, und von dort ging es weiter bis zum Westende des Lake Superior. “Seitdem hat sich auf dem French nichts verändert”, sagt Toni. “Ihr habt das gleiche Wasser unter dem Kiel und seht die gleiche Wildnis wie sie.” Die Karte des French River Provincial Park im Maßstab 1:50 000 zeigt einen extrem zerfaserten Fluss, mit einem Einzugsgebiet, das
an eine schwedische Schärenlandschaft erinnert. Gewaltige Kräfte haben hier die Granitplatte des Kanadischen Schild gesenkt, gehoben und manchmal aufgerissen und dabei ein Wasserwegsystem mit Hunderten von Inseln, Buchten und Seitenarmen hinterlassen, das auf der Karte aussieht, als gäbe es mehr Wasser als Land.

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Der Leise hat eine starke Stimme (chin. Sprichwort). Der French River auch .. | @ Fred Speed, Travel Ontario

Kanu-Paradies French River

Heute ist der vier Autostunden nördlich von Toronto fließende French River nur noch ein Geheimtipp bei Kanu-Wanderern. Von 1600 bis 1820 war er jedoch eine der wichtigsten Wasserstraßen Nordamerikas. Wer nach den Großen Seen und weiter wollte, musste hier durch. Die Liste der Namen liest sich folglich wie das Who`s Who der kanadischen Geschichte. Samuel de Champlain, der Gründer Neu-Frankreichs, kam 1615 hier durch, ihm folgten, um nur einige zu nennen: Jean Nicollet, Entdecker des Lake Michigan, Pierre Radisson, der Mitbegründer der Hudson Bay Company, Pater Marquette und Louis Joliet, die von hier aus den Mississippi und Louisiana erreichten, die Vérendryes, die als erste Weiße die Rockies sahen, Peter Pond, das erste Bleichgesicht am Lake Athabasca oben in den Northwest Territories und Alexander Mackenzie, der erste Europäer am Pazifik.

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Portage! An zu starken Stromschnellen wird das Kanu vorbeigetragen. Das war schon immer so .. | @ Jeff Speed, Travel Ontario

Portage, ein durch und durch kanadisches Wort

Zum Sightseeing hatten die Voyageurs keine Zeit. Wir schon, deswegen sind wir schließlich hier. Dies ist Kanada wie aus dem Bilderbuch. Geräuschlos gleiten wir um Commanda Island herum, eine Felseninsel mit alten Kiefern, weltvergessen und bildschön. Der alte “Rivière des Francais” ist dieses Jahr zu niedrig, um die Abkürzung über die Little Pine Rapids zu nehmen. Wir gehen an Land und schauen uns an, wie eine Stromschnelle ohne Wasser aussieht. Wasser, Wind und Wetter haben hier eine tiefe Rinne in den Granit gefressen. Am Boden: rundgeschliffenes Geröll, vom French heran geschleppt und abgelagert. Wir sind froh, nicht hier durch zu müssen. “Taucher haben hier Silbermünzen und eine alte französische Muskete gefunden”, sagt Toni. Der arme Voyageur damals wirds von seinem Lohn abgezogen bekommen haben. Sein Kanu war gerade schmal genug, um durch die Little Pine Rapids hindurchzuschlüpfen. Die Wände hier scheinen noch widerzuhallen von den Kommandos des “Avant”, des Lotsen im Bug. Der musste scharf aufpassen, denn Birkenrindenkanus schlugen schnell leck. Um die Big Pine Rapids etwas später tragen wir die Kanus lieber herum. Alles ausladen, die Kanus, Rucksäcke, Zelte und Fässer mit Lebensmitteln geschultert und an dem tosenden Inferno vorbei gekraxelt. “Ihr seid nicht die Ersten”, sagt Toni und zeigt auf den glatten, merkwürdig blanken Granit. Indianer, Waldläufer, Missionare, Voyageurs, Entdecker, sie alle schleppten hier ihre Kanus vorbei. Schwitzten und fluchten genauso wie wir jetzt. An diesem Tag campieren wir bei den Double Rapids. “French River Hilton” nennt Alex die Stelle hoch über dem River. Norman hievt acht Zander aus dem Wasser. Nachts scheint das Nordlicht.

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Blue Chute Rapids: Die Kraft des Wassers unter dem Kiel spüren .. | @ Jeff Speed, Travel Ontario

French River: Coole Ritte durch schäumendes H2O

Showtime. “This is it”, sagt Toni. Die Blue Chute Rapids. Wir haben das Rauschen schon von ferne gehört und peilen die Lage nun vom Ufer aus. Keine Felsbrocken dicht unter der Oberfläche, keine böse Überraschungen in unübersichtlichen Kurven. Eine gerade, zehn Meter breite Passage mit hohen Granitwänden erwartet uns. Anderthalb Meter Gefälle. Die dadurch vervielfachte Fließgeschwindigkeit und die stehenden Wellen haben ein etwa 50 Meter langes und sechs Meter breites Waschbrett mit anderthalb Meter hohen Rillen aus schäumendem H2O erzeugt. Die Kanus über Land schleppen müssen wir trotzdem nicht. Wir gleiten auf einer tiefblauen, weit über das Waschbrett leckenden Zunge mitten durch das tosende Spektakel, ohne das auch nur ein Spritzer über die Bordwände schlägt. Ein absolut geiles Feeling, von dem wir noch mehr wollen. Unterhalb von Blue Chute laden wir aus und gehen mit unseren Kanus spielen. Resultate siehe oben. Die Big Parisian Rapids und Devil´s Chute etwas später sind komplizierter. Wir schleppen alles über Land, was nicht nass werden darf, und machen die Schnellen leer. Devil´s Chute ist tückisch, die s-förmige Schnelle zwingt zu Tricksereien im Wildwasser. Abends schlagen wir das Lager unweit von Cross Island auf. Diese Stelle inspiriert Alex zum Vergleich mit einem Marriott. Die Geister der bei Cross Island vor 350 Jahren ertrunkenen Jesuiten, die von den Ojibwa-Indianern “Wemitigoozhi” (in etwa: “Die mit Stöcken winken”) genannt wurden, weil sie immer mit ihren Kruzifixen herumfuchtelten, lassen uns in dieser Nacht in Ruhe.

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Cross Island: Wenn diese Ufer sprechen könnten! | @ Jeff Speed, Travel Ontario

Fantastische Voyageurs

Wir verbringen noch einen Tag und eine Nacht auf dem French. Die Zivilisation ist weit weg. Wir machen zwei Drittel des Fluss und sind verdammt stolz darauf. Am letzten Tag macht uns der vom Lake Superior herüberwehende Westwind zu schaffen. Die Voyageurs, so furchtlos wie abergläubisch, nannten ihn “la Vieille” (“Die Alte”), und brachten ihm vor der Abreise kleine Opfer dar. Wir kommen auf eine Schlagzahl von 45 pro Minute. Zwei Stunden lang, dann gehen wir mit langen Armen an Land. Immerhin, nicht schlecht für uns Pseudo-Voyageurs. Die Echten hätten wahrscheinlich nur müde gelächelt. Sie wären schon längst vor Manitoulin Island im Lake Huron gewesen, bei ihren Ojibwa-Freundinnen. Trotzdem, bei allem Muskelkater: Die Vorstellung, bis zu den Großen Seen und weiter zu paddeln, bleibt faszinierend. Der erste Weiße, der den French River unter den Kiel nahm, war ein französischer Teenager namens Etienne Brulé. Das war 1610. Er sah als erster Europäer den Lake Superior. Wurde von den Huronen adoptiert und bei seiner Rückkehr Jahre später in Québec für einen Indianer gehalten. 1812 kehrte Nordamerikas fleißigster Landvermesser, David Thompson, über den French nach Montréal zurück. Er hatte seit 1786 den Westen Kanadas quasi im Alleingang kartografiert. Die Indianer nannten ihn “Der Mann, der die Sterne schaut”. Thompson sah, was wir auf diesem Trip gesehen haben. Und einen Sternhimmel, der noch immer bis auf den Fluss reicht.

 

Weitere Informationen über Kanutouren auf dem French River findet Ihr hier:

 

 

 

 

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