Kanadas Norden

Erstklassiges Leiden: Auf dem Keele River durch die Northwest Territories

An diesem Punkt müssten sich alle einig sein, dass es nur noch besser werden kann. Es schüttet wie aus Eimern. Der Himmel hängt so tief und suppig, dass ich mit dem Paddel darin herumrühren kann. Wir campieren auf einer Kiesbank aus schuhgroßen Steinbrocken, die Kanus als Windschutz hochkant gestellt und mit einer Regenplane darüber gespannt.

Alles ist feucht, alles klamm. Das Holz braucht eine Ewigkeit, und als es endlich brennt, treibt uns der Qualm von einer Ecke unseres Provisoriums in die andere. Der Fluss ist jetzt abwasserbraun und rauscht an uns vorbei wie ein gigantischer Wasserrohrbruch. Jeder ist nass und dreckig, hat aufgesprungene Hände und Pudding in den Schultern. Zur nächsten warmen Dusche sind es 180 Kilometer. Luftlinie.

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Kanuwandern vom feinsten: Auf dem Keele River von den Mackenzie Mountains quer durch die NWT zum Mackenzie River | @Canoe North Adventures

Keele River: Die heisse Dusche ist eine Ewigkeit entfernt

Wie gesagt: Eigentlich müssten sich alle einig sein. Sämtliche Frust-Faktoren sind gegen uns aufgefahren. Und dennoch, ein ernsthafter Stimmungsumschwung mag sich selbst hier, auf dieser gottverlassenen Kiesbank am Polarkreis, nicht einstellen. Und das liegt nicht nur am Tequila, der gerade die Runde macht.

Vor allem liegt es daran, dass selbst dieser für Leib und Seele strapaziöse Tag nicht mit der Frage zu Ende geht, was zum Teufel man eigentlich während der letzten 12 Stunden gemacht hat. Jeder hat die heutigen 35 Kilometer in den Knochen. Die Regenfälle der letzten Tage haben den Fluss noch höher, schneller und schwieriger gemacht. Wir sind durch waschbrettähnliche Abschnitte mit meterhohen, stehenden Wellen geritten.

Wir haben enge Canyons, die die Kanus über unterschiedlich schnell fließende Untiefen schubsten, hinter uns. Und zuletzt ist da noch eine gemeine Stromschnelle der Kategorie III-IV gewesen. Wir mussten sie zuvor vom Ufer aus erkunden, weil sie hinter einer Biegung verschwand und deshalb vom Kanu aus nicht einsehbar war. Für die Befolgung der obersten Paddler-Regel “Weitsicht ist die halbe Miete” sind wir noch lange dankbar.

Denn erst vom Ufer aus sahen wir, dass auf der anderen Seite ein Creek in den Keele mündete und unter Wasser Strudel erzeugte. Über Wasser bewirkte das eine merkwürdig glatt gespannte, leicht gekräuselte Oberfläche. Nach sechs Tagen auf dem Fluss, an denen wir uns schon unbesiegbar zu fühlen begannen, rückte diese Stelle die Verhältnisse wieder zurecht.

Wie unsere Guides Mike und Julie im Kanu durch die Lücke zwischen den Wellenbergen schossen, dann von den Strudeln so heftig gebremst wurden, dass es sie von den Bänken hob, und wie sie sich zuletzt nur heftig paddelnd aus dem Sog befreien konnten, war so, als ob der Keele uns zuraunte: So meine Lieben, jetzt zeigt mir mal, was Ihr wirklich drauf habt!

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Keele River: Nach ein paar Tagen auf dem Fluss gehört das lustvolle Spiel in stehenden Wellen zu den bevorzugten Übungen .. :) | @Canoe North Adventures

Keele River: Erstklassiges Leiden ..

Auch sonst haben wir Glück. Das Schietwetter von heute holt das Beste aus uns heraus. Unser Nick, gebürtiger Schotte, wortkarg und stark wie ein Bär, hat bisher nicht viel gesagt. Doch an diesem Abend bringt er seine soliden, aus zweieinhalb Worten bestehenden Deutschkennntnisse unter. Als die heiße Bohnensuppe herumgeht, spricht er sie: “Erstklassiges Leiden, was?” Damit trifft er voll ins Schwarze!

Während die Welt um unsere Kiesbank zu einer trostlosen Collage verschwimmt, verwandelt sich die Suppe in die beste Mahlzeit aller Zeiten. Die letzte Stromschnelle ist Gesprächsthema bis spät in die Nacht. Eines unserer Kanus wäre fast unter Wasser gedrückt worden. Der Keele schwappte schon über die Kante, als Dave und Barry sich doch noch aus dem Sog schaufelten. Julie und Hillary stochern lächelnd im Feuer herum.

Auch sie haben die “rapids” und “boiler” geschafft. Allerdings weniger mit Muckis als mit guter Technik und Übersicht.

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Keele River: Während des Trips wachsen die Teams zusammen | @Canoe North Adventures

Keele River: Kanu-Dorado am Polarkreis

Nun kann man die Frage, warum zum Teufel man die schönste Zeit des Jahres mit Schinderei am Ende der Welt verbringt, auch mit einem einzigen Satz beantworten: weil dies nicht irgendein Paddel-Revier ist, sondern der Keele River. Der Keele ist 450 Kilometer lang, entspringt im Yukon Territory und arbeitet sich quer durch die messerartig gezackten Mackenzie Mountains zum gleichnamigen River.

Und weil er durch die kanadischen Northwest Territories fließt, wo es mehr Elche als Menschen gibt und sich Bär und Wolf Gute Nacht sagen, heißt das: keine Menschenseele weit und breit, keine Straßen, keine Siedlungen, dafür schneebedeckte Bergklötze, über deren Kämme sich die Mitternachtssonne abrollt, und sternenklare Nächte, die so still sind, dass man anfangs irritiert aufschreckt, weil einem die Nachtgeräusche der Großstadt fehlen.

Während der Sommermonate fließt der Keele mit einer Geschwindigkeit von sechs bis acht Stundenkilometern, nach Regenfällen viel schneller. Die Stromschnellen – Experten rechnen sie den Kategorien I und II zu, Ausnahmen bestätigen die Regel, s.o. – sind auch von Wildwasser-Novizen zu bewältigen. Bei Tagesetappen zwischen 30 und 60 Kilometern dauert die Tour vom Put-In bis zur Mündung in den Mackenzie River 12 Tage.

Drei Tage vorher verlässt der Keele die Berge, wird breiter und zerfasert in ein Labyrinth aus Armen und Kanälen: ein Paradies für Elche, und ein Härtetest für Paddler, denen die Strömung fortan nicht mehr weiter hilft.

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Keele River: Die Planung lässt reichlich Zeit für die Erkundung der Uferstreifen | @Canoe North Adventures

Norman Wells: Mit den Kanus in der Twin Otter zum Put-In

Norman Wells ist das Gravitationszentrum aller Kanu-Wanderer in diesem Teil der Northwest Territories. Die 700-Seelen-Siedlung am Mackenzie River liegt knapp unter dem Polarkreis und wird als Drehscheibe zwischen den Städten im Süden Kanadas und den Inuit-Siedlungen am Eismeer täglich von Passagierjets angeflogen.

Straßen hierher gibt es nicht. Raison d`etre der nüchternen Siedlung sind Öl- und Erdgasvorkommen. Schon gleich vor der Haustür wird nach Öl gebohrt, im Mackenzie River, wo künstliche Inseln 90 Prozent der Einwohner daran erinnern, weshalb sie hergekommen sind. Eine Handvoll Restaurants und Supermärkte sowie ein, zwei Espressomaschinen halten sie bei Laune. Es gibt auch ein kleines Museum. Besucher übernachten in einem der beiden Hotels.

Tags darauf lädt man die Kanus in eine gecharterte Twin Otter und hebt zum Put-In ab. Nach anderthalbstündigem Flug dicht über die zerklüfteten Dreieinhalbtausender drückt der Pilot die Schwimmer sanft in den (bei Sonnenschein) smaragdgrünen Keele River. Am ersten Tag paddelt man nur zum ersten Lager wenige Kilometer flussabwärts. Zum Tagesende veranstalten die Guides einen Paddel-Intensivkurs, bei dem die Teilnehmer das kleine Einmaleins des Kanuwanderns lernen.

Wie nähert man sich bis zu anderthalb Meter hohen Wellen? Wie navigiert man durch fadenscheinige Wirbel? Wie überquert man einen Fluss mit einer Fließgeschwindigkeit von zehn Kilometern, ohne zu weit abgetrieben zu werden? Wie bleibt man bei hohem Wellengang trocken?

Das Wasser des Keele ist klar und eiskalt. Das macht Kentern zu einer ernsten Angelegenheit und zum Prüfstein nicht nur für die Unglücksvögel, sondern für das gesamte Team, das wegen der starken Strömung blitzschnell reagieren muss, will es eine unterkühlte Besatzung nicht erst zehn Kilometer flussabwärts aus dem Wasser ziehen.

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Keele River: Zwischen Graublau und Türkis changierender Weg durch grandiose Wildnis | @Canoe North Adventures

.. und erstklassiges Genießen

Am nächsten Morgen hat der angeschwollene Keele die Kiesbank in eine Insel verwandelt. Gut, dass wir die Zelte an der höchsten Stelle aufgeschlagen haben! Wir halten uns nicht lange mit Griesbrei und Kaffee auf und sind eine halbe Stunde später wieder auf dem Fluss. Ein gutes Gefühl, wieder im Kanu zu sitzen! Man wird geradezu süchtig nach der Arbeit am Paddel. Die Sonne bricht durch, die letzten 24 Stunden verfliegen wie ein böser Traum.

Der Keele ist unser Zuhause geworden, die Erinnerung an Fernsehen und Internet verschwimmt endgültig im zarten Nachmittaglicht. An der Mündung des Twitya River gehen wir an Land und werfen die Leinen aus. Wo das blaugrüne Wasser des Twitya sich mit dem noch immer braunen Keele vereinigt, stehen Lachse und Äschen en masse. Zeit, die Seele baumeln zu lassen. Ein paar von uns ziehen mit Nick den Twitya hinauf. Nick will von heißen Quellen flussaufwärts gehört haben.

Wir anderen machen es uns am Ufer bequem, holen die Köder ein und werfen sie wieder aus. Unsere Kanus, diese urkanadischen und ästhetischsten aller hiesigen Fortbewegungsmittel, liegen auf dem Strand und sehen einfach nur gut aus. Erstaunlich, wie schnell uns der Alltag auf dem Fluss in Fleisch und Blut übergegangen ist. Man schießt in den Kanus über weißbemützte Wellenberge, landet krachend in einem Wellental und brüllt in wilder Freude “jiiiieehaa”.

Am Ende des Tages zieht man es an Land, macht Feuer und gönnt sich zuallererst einen Kaffee. Und steigt bereits um neun erschossen in den Schlafsack. Warum also tut man sich das an? Siehe oben. Und auch dieser ketzerische Gedanke sei erlaubt. Vielleicht will man auch einmal nicht mit leerem Kopf aus den Strandferien zurückkehren, sondern zu Hause tolle Geschichten erzählen wollen ..

Anmerkung: Ich habe diese Tour bereits in vor-digitaler Zeit (Wie steinzeitlich klingt das denn?!) unternommen. Die Bilderlage war entsprechend qualitativ antiquiert. Glücklicherweise sind die guten Leute von Canoe North Adventures eingesprungen. CNA führt den Keele River – neben vielen anderen Paddle-Flüssen – im Programm und war so nett, mir die oben verwendeten Bilder zur Verfügung zu stellen. Many thanks, Lin & Al!

Weitere Informationen zum Keele River und Northwest Territories

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